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Gesundheit: Biopsychosoziale Medizin: Eine Brücke zwischen der Seele und den Genen

Alle reden von Genetik - aber wo bleibt heute der Kranke mit seinem Leiden? Was hat die psychosomatische oder, umfassender, die biopsychosoziale Medizin der Molekularmedizin entgegenzusetzen?

Alle reden von Genetik - aber wo bleibt heute der Kranke mit seinem Leiden? Was hat die psychosomatische oder, umfassender, die biopsychosoziale Medizin der Molekularmedizin entgegenzusetzen? Wo ist die Position der Psychosomatik zwischen der molekularen und der sozialen Medizin? Solche Fragen stellte der Medizinsoziologe Johannes Siegrist von der Universität Düsseldorf unlängst auf der Berliner Tagung der Viktor von Weizsäcker-Gesellschaft.

Das rasche Vordringen der Molekularmedizin erklärte Siegrist mit den umwälzenden Erkenntnisfortschritten, aber auch mit den Versprechen, in Zukunft Krankheiten besser heilen oder gar verhüten zu können. Wenn aber Krankheiten allein auf molekulare Prozesse zurückgeführt werden, trete die reduktionistische Sicht einen neuen Siegeszug an, meinte Siegrist.

Eher als für das noch vorherrschende strukturelle Krankheitsmodell oder -paradigma sprächen diese modernen Einsichten für ein funktionelles Verständnis: Krankheit als gestörte Kommunikation auf den verschiedenen Systemebenen, von den Molekülen über die Zellen, Organe und Organismen bis zur Familie, dem Arbeitsteam und der Gesellschaft.

Für die meisten Krankheiten sei durch eine genetische Disposition allenfalls das Risiko erhöht. Ob sie dann ausbrechen, hänge entscheidend von den Verhältnissen und dem Verhalten ab, sei also keineswegs durch das Genom unabänderlich determiniert. Wie die Lebensverhältnisse und das individuelle Verhalten sich auf Gesundheit und Krankheit auswirken, damit beschäftigen sich gesundheitswissenschaftliche Disziplinen wie zum Beispiel Medizinsoziologie und Sozialepidemiologie - was Siegrist am Beispiel der sozialen Ungleichheit von Krankheit und Lebenserwartung darlegte.

Die Forschung am "sozialen Makrokosmos" des Krankheitsgeschehens also habe sich ebenso ihr eigenes Terrain geschaffen wie die Forschung am "molekularen Mikrokosmos". Was der Medizinsoziologe hingegen vermisst, ist zum einen die theoretische Durchdringung der Psychosomatik. Zum anderen fehle es überhaupt an einer starken psychosomatischen Forschung, die zwischen molekularer und sozialer Medizin zu vermitteln hätte.

Verdoppeltes Infarktrisiko

Die von Siegrist zitierten sozialepidemiologischen Studien ergaben zum Beispiel, dass berufliches Engagement ohne die verdiente Anerkennung das Infarktrisiko verdoppelt, vor allem bei Personen, deren Herzkranzgefäße durch Risikofaktoren wie hohe Blutdruck- und Blutfettwerte vorgeschädigt sind. Entscheidend sei "das Zusammentreffen somatischer und sozioemotionaler Risiken". Eine Aufgabe der Psychosomatik sei es, den massenhaften sozialen Schädigungen als Befund der sozialmedizinischen Forschung in der individuellen Krankengeschichte nachzuspüren und psychische Schutzfaktoren zu mobilisieren.

Zwischen Sozialmedizin und Psychosomatik hält Siegrist einen Brückenschlag für ebenso möglich wie zwischen Psychosomatik und Molekularmedizin. Dabei denkt er an die Konflikte durch Gentests oder pränatale und Präimplantations-Diagnostik, bei denen die Betroffenen Unterstützung brauchen. Er mahnte aber auch Forschungsfelder an, auf denen die Verbindungen zwischen den krankheitsfördernden psychosozialen Faktoren im "Makrokosmos" und den zellulären und molekularen Veränderungen im "Mikrokosmos" untersucht werden. Warum, so fragte er, überließen die Psychosomatiker anderen Fächern etwa die Psychoimmunologie, die Veränderungen im körperlichen Abwehrsystem durch seelische Einflüsse erforscht?

In der Diskussion erhob sich Widerspruch. Siegrist habe das Bild der Psychosomatik aus der Zeit vor einem Jahrzehnt gezeichnet. Die angemahnten Forschungen gebe es inzwischen, sagte Friedhelm Lamprecht, Leiter der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Als der Tagesspiegel nachfragte, erhielt er eine Studie zugesandt: Ausgehend von der Hypothese, dass psychischer Stress die Neurodermitis fördert, untersuchten die Psychosomatiker der MHH gemeinsam mit den Dermatologen die Wirkung von akutem Stress auf das Immunsystem von Patienten mit Neurodermitis verglichen mit Psoriasispatienten und gesunden Versuchspersonen.

Alle drei Gruppen wurden bei diesem Experiment unter den gleichen seelischen Druck gesetzt: Sie mussten in vorgegebener Zeit eine Ansprache vorbereiten und vor einem Publikum halten sowie eine Rechenaufgabe lösen. Dass dies für alle tatsächlich Stress bedeutete, war an erhöhtem Puls, Blutdruck und Noradrenalinspiegel abzulesen. Worauf es ankam, war die Wirkung dieses Stresses auf die im Blut zirkulierenden Immunzellen. Der vermutlich stressbedingte An- oder Abfall bestimmter Zellen war nach Einschätzung der Autoren ein mögliches somatisches Bindeglied zwischen psychischem Druck und Hautentzündung bei Neurodermitis-Patienten.

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