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Gesundheit: Bürger und Bildungsspießer

Herkulesarbeit: Eine Potsdamer Tagung auf der Suche nach den Tugenden des Citoyens

Die Szene am Alten Markt in Potsdam ist ein Schlachtfeld der Verwerfungen und Illusionen. Das Alte Rathaus steht, goldgekrönt von einer den Kosmos stemmenden Heldenfigur, neben der halb renovierten Nikolaikirche. Vis-à-vis ministeriale Edelplatte, ein leerer Theatercontainer, das restaurierte Fortunaportal des verschwundenen Stadtschlosses, eine Baugrube. Ein paar Meter um die Ecke: ein Gewölbebogen der zum Wiederaufbau projektierten Garnisonskirche, von deren Turm einst das Glockenspiel „Üb immer Treu und Redlichkeit“ erklang.

Im Foyer des Alten Rathauses zeigt ein Pappmodell Potsdams historisches Zentrum, bereit zur Auferstehung. Ein anderes Wunschbild wird im Konferenzsaal rekonstruiert. „Sehnsucht nach einem verlorenen Ideal. Vom Niedergang des Bürgertums und dem Verschwinden bürgerlicher Tugenden im 20. Jahrhundert“ heißt der Tagungstitel. Hier geht es weniger um die Utopie der Berliner Republik, den Bankrott ihrer Sozialsysteme und das postmoderne Wertevakuum durch viele willige Citoyens auszugleichen, als um Phantomschmerz und Abschiedsgesänge.

Doch das „verlorene Ideal“ – der Bürger als Welterlöser in Herkules-Pose auf dem Rathausdach – verfehlt die historische Realität des pragmatischen „Dritten Standes“. So berichtet der Marburger Historiker Ulrich Sieg – um den Patriotismus jüdischer Bürger zu belegen – von einer Attacke des Bismarck-Sohnes Herbert auf den Bankier Gerson Bleichröder, einen Finanzier des Reichskanzlers. „Wenn dieser geldgierige Semit einige Millionen verdienen kann, ist es ihm ganz egal, was aus Papa und unserem Vaterlande wird“, hatte Herbert seinem Schwager geschrieben; Papa Bismarcks Randnotiz lautete: „Wem nicht?“ Der kühle Kommentar wirft Fragen nach den „typisch“ bürgerlichen Motiven auf: nach der fruchtbaren Verbindung von gesellschaftlichem Engagement und Eigennutz.

Es gebe keine einzige Definition des Bürgertums „an und für sich“, provoziert der Kieler Historiker Michael Salewski. Typisch sei, dass man in der demokratischen „Bürgergesellschaft“ in einer Minorität, in einer Oberschicht zu leben glaube, „die sich deutlich von einer Unterschicht unterscheidet“. Die „Matrix“ dieses Gruppenbewusstseins stamme aus dem 19. Jahrhundert, seine Ideale seien „hoffnungslos veraltet, pure Nostalgie“.

Folglich dominieren Selbstbilder der aussterbenden Spezies diese Veranstaltung der Gesellschaft für Geistesgeschichte (GGG) mit dem Moses Mendelssohn-Zentrum und der Universität Potsdam. Man beklagt die Masse der Nichtwähler, Politikfähigkeit gehöre zur conditio humana. Hegels Bonmot „Die tägliche Zeitungslektüre ist das Morgengebet der bürgerlichen Gesellschaft“ bestätigt das Lamento über den Medienmarkt. In der totalitär anmutenden Meinungsmaschine Internet regiere die Idee von der „Allwissenheit des Kollektivs“, sagt MDR-Programmdirektor Johann Michael Möller. Das „große öffentliche Gespräch“ der bürgerlichen Presse verliere an Bedeutung. Dieser seien – im Kontrast zur „linken Meinungspresse“ – die Deutungshoheit und der Primat der Politik abhandengekommen. „Tabloidformate drücken diese Schwundstufe aus.“

Auf dem Hintergrund solcher Verlusterzählung gerät selbst der Klassenkampf zweier Dichter zum Sehnsuchts-Szenario: Jost Hermand (Madison/USA) referiert die Abneigung zwischen Thomas Mann und Bertolt Brecht in den Koordinaten ideologisch fixer Positionen. Als der Repräsentant des Bürgertums 1918 die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ veröffentlicht, engagiert sich Brecht im Arbeiter- und Soldatenrat. Zweimal wird der Exulant versuchen, den beneideten Nobelpreis-Star für ein Manifest zu gewinnen; beim zweiten Mal zieht Mann seine Unterschrift anderntags zurück. Brecht „verrät“ die eigene Herkunft („Meine Stücke zeigen ohne Bedauern, wie die große Sintflut über die bürgerliche Welt hineinbricht“) und spießt die politische Blindheit des „Bildungsspießers“ als wahren Verrat auf. Mann sieht Brecht als Moskaus Marionette und lehnt den Stalin-Friedenspreis ab, den Brecht annimmt. Heutzutage gebe es weder Repräsentanz noch Verrat, sondern nur noch Autoren, die „sich selbst ausdrücken“, resümiert Hermand den intellektuellen Wandel.

Nicht nur abgefallene Bürgerkinder haben den Untergang „ihrer“ Klasse konstatiert und, bis in die Zellen von Stammheim, bourgoiser agiert, als ihnen lieb sein konnte. Die Rede vom Weltuntergang erweist sich auch als das Markenzeichen bekennender Bildungsbürger. Wo die eigenen Aufgaben nicht erkannt werden, dient permanenter Selbstzweifel der Identitätssuche. 14 Prozent der Bevölkerung verstehen sich als liberal-postmoderne Bürger, zehn Prozent im konservativen Sinn als Bürgertum. Wer sich mit dem Phänomen Bürgertum beschäftige, sagt Michael Salewski, sei bereits Bürger.

Die Zeiten bürgerlicher Selbstgewissheit scheinen lange vorbei. Im Ersten Weltkrieg dementierte der katholische Lehrerbund Greuelmärchen des Gegners: Soldaten, die deutsche Schulen durchlaufen hätten, seien zu so etwas unfähig. Heute halten wir Erziehungsdefizite für möglich – und ahnen, dass Soldaten, die mit Skeletten spielen, schlechte Staatsbürger sind. Doch das Wunschdenken, die „Herkulesaufgabe“ Erziehung werde von boomenden Privatschulen gelöst, wischt Stefan Rolle, Studiendirektor aus Niedersachsen, beiseite: Nur positive, starke Persönlichkeiten können das pädagogische Blatt wenden. Warum sollten diese wenigen auf dem schrumpfenden Lehrermarkt ausgerechnet zur Privatschule finden?

Und woher nehmen sie ihr Werte-Portefeuille? Die Selbstverständlichkeit, mit der Julius Schoeps Preußens verkannte Tugenden als neu aufgelegte ethische Fundamente vorschlägt, lässt sich nicht produzieren. Der Potsdamer Wissenschaftler zitiert, was sein Vater Hans-Joachim Schoeps, der Gründer der Gesellschaft für Geistesgeschichte, über den 20. Juli 1944 geschrieben hatte: „Es war ein letzter Ausklang der sittlichen Idee dieses Staates. Die Männer der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus – Offiziere, Beamte, Gewerkschaftsführer –, die des Glockenspielmotivs der Potsdamer Garnisonkirche halber aufstanden, sind Blutzeugen des wirklichen Preußentums in unserer Generation geworden.“ Das Schlachtfeld Alter Markt ist auch eine Baustelle der Hoffnungen. Bis die nächste Generation ihre Halloween-Schädel beiseitelegt, den Herkules-Globus schultert und die große Garnisonkirche wieder steht, bleibt noch Zeit für ein paar kleine Bürgerinitiativen zur Rettung der Welt.

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