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Gesundheit: "Christliches Abendland": Wenn Werte verfaulen

Mit dem Begriff "Christliches Abendland" können heute die Jüngeren nichts mehr anfangen. Für Intellektuelle war er schon lange ein Kampfbegriff: Richard Schröder, der Theologe an der Humboldt-Universität, sowie der Schriftsteller Rolf Schneider sehen das so.

Mit dem Begriff "Christliches Abendland" können heute die Jüngeren nichts mehr anfangen. Für Intellektuelle war er schon lange ein Kampfbegriff: Richard Schröder, der Theologe an der Humboldt-Universität, sowie der Schriftsteller Rolf Schneider sehen das so. Denn wie man es auch dreht und wendet: Die Rede vom "Abendland" diente der Abgrenzung und Ausgrenzung zunächst vom Morgenland. Das Morgenland waren der Osten, zuerst Ostrom mit dem Zentrum Konstantinopel, dann der Islam und schließlich die Türken. Obwohl der Begriff im Ersten und Zweiten Weltkrieg eine große Rolle spielte und noch nach 1945 im Kampf gegen den Kommunismus verwendet wurde, ja selbst in jüngster Zeit mit der "Leitkultur" wieder zum Leben erweckt worden ist, lehnen ihn viele Intellektuelle vehement ab. Der Schriftsteller Rolf Schneider bekannte anlässlich einer Podiumsdiskussion in der Katholischen Akademie zum Thema "Christliches Abendland: Orientierung oder Irreführung?, er habe große Probleme mit diesem Begriff. Er nehme ihn bei dieser Diskussionsveranstaltung "zum ersten Mal öffentlich in den Mund".

Der Theologe Richard Schröder, in der DDR ebenso ein Dissident wie Rolf Schneider, wies dem Begriff des christlichen Abendlandes ausgesprochen rückwärts gewandte Züge zu: Ein Kampfbegriff, den der Romantiker Friedrich Novalis gegen die Aufklärung setzte. Hatte die Aufklärung die finstere Zeit des Mittelalters überwunden, so feierte Novalis die Romantik als Auferstehung Europas im Geist der Religion - gegen Aufklärung und Reformation gewendet.

Keiner der Diskussionsteilnehmer erwähnte Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes", jenes zwischen 1918 und 1922 verfasste Werk, das den Konservativen suggerierte, dass nur dann Europa eine Zukunft habe, wenn einzelne Nationen die Stärke besäßen, auch mit den Mitteln des Krieges sich geschichts- und kulturprägend erneut durchzusetzen. Wenn Richard Schröder den eigentlichen Geist Europas als pluralistisch, als tolerant, als den Menschenrechten und dem Rechtsstaat verpflichtet, beschrieb, dann war seine Gegenposition zu solchen Ideologien deutlich: Zu Europa gehören Christentum, der jüdische Glaube, der Islam sowie der atheistische Humanismus. Das Christentum kann er nur als eine über Europa hinausgreifende universelle Idee begreifen. Nämlich in der Kontinuität von Jerusalem und jüdischen Glaubenselementen über Rom als der Stätte des Papsttums bis zum Europa nördlich der Alpen, in dem sich der Gedanke der Reformation von Jan Hus, Luther, Zwingli und Calvin verbreitet hat.

Die Polen haben eine andere Sicht: In ihrer Sehnsucht, nach den Erfahrungen mit Kommunismus und Nationalsozialismus endlich in einem christlichen Europa angekommen zu sein, bedeutet für sie die westlich der Odergrenze zu beobachtende Säkularisierung eine Enttäuschung. Irena Lipowicz, heute polnische Botschafterin in Wien und frühere Sejm-Abgeordnete, formulierte es so: "Während des Kommunismus war das christliche Abendland für die Polen ein Mittel zur Selbstfindung. Wir sagten, zur Zeit leben wir unter kommunistischer Herrschaft, aber eigentlich gehören wir zum christlichen Abendland, weil wir freiheitlich, individualistisch sind und uns einem kollektivistischen Gedanken verweigern." Heute empfänden es die Polen als paradox, dass sie Westeuropa nicht mehr als besonders christlich erleben. "Kann es eigentlich in einer Demokratie Werte geben, ohne die Quelle des Christentums?" fragte die Botschafterin.

Und dann berichtete sie von ihren Erfahrungen als Sejm-Abgeordnete, als nach der Parlamentsdebatte über Polens Weg in die EU ein älterer Mann sie gefragt hatte: "Sind Sie sicher, dass die im Westen uns nicht eines Tages ermorden wollen?" Auf Grund dieser aus der Vergangenheit genährten Angst legten die Polen so großes Gewicht auf die Werte. Deswegen diskutierten sie so leidenschaftlich über die Charta der Grundrechte in Europa. Sie wollen ein Europa, das nicht nur wirtschaftlich vereint ist, sondern als Wertegemeinschaft begriffen wird.

Auch Daniel Kroupa, Unterzeichner der Charta 77, Dissident aus Prag und heutiger Vorsitzender der konservativen Bürgerlich-Demokratischen Allianz, sieht es nicht anders: Die Institutionen und Werte Europas basierten auf dem Christentum. Die zwei totalitären Regime des 20. Jahrhunderts seien antichristlich gewesen. Selbst wenn man den Kommunismus als geistiges Kind des europäischen Humanismus bezeichne, so sei er doch ohne christlichen Kern gewesen - eine deutliche Anspielung auf die Grausamkeiten des Gulag. Für Kroupa sind die Menschenrechte das eigentliche Kennzeichen der heutigen europäischen Identität. Aber: "Ohne lebendige Beziehung zu Gott verfaulen die Werte."

Die Katholische Akademie hat diese Diskussion zum Auftakt einer Reihe gemacht, die sich Ostmitteleuropa-Forum nennt. Intellektuelle, Politiker, Theologen, Wissenschaftler und Manager werden sich einiger Querschnittsthemen annehmen. Was Europa aus christlicher Sicht prägen kann - diese Frage stand für die Akademie im Vordergrund, nicht etwa eine Wiederbelebung des Begriffs "Christliches Abendland".

Uwe Schlicht

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