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Gesundheit: Dankbarkeit

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Die berühmte Frage aller Tanten, die einmal im Jahr zu Besuch kommen und ein kleines Geschenk dabeihaben – sie lautet: „Was sagt man da? ‚Danke‘ sagt man“ –, habe ich als Kind nie zu hören bekommen, meine Tanten waren viel zu diskret, um sie zu stellen. Offenbar geht es aber manchen Menschen anders, denn wie soll man sich erklären, dass es so wenig Dankbarkeit gibt? Diese Zeitgenossen wurden vermutlich von ihren Tanten so lange zur Dankbarkeit gezwungen, bis sie die Lust daran gründlich verloren haben. „Dankbarkeit ist manchmal ein Band, oft aber eine Fessel“, hat der dichtende Staatsminister aus Thüringen einmal formuliert.

Vor zwei Wochen befand ich mich mit Angehörigen des Deutschen Bundestages in New York, um amerikanische Studierende für ein Praktikum in unserem Parlament auszuwählen. Eines Abends sprachen wir darüber, dass kaum einmal nach einer Legislaturperiode die Wähler einem Abgeordneten für seine Arbeit danken. Nein, es gibt allenfalls den rituellen Dank in den Fernsehrunden nach Wahlen, und den gibt es unabhängig davon, wie desaströs die Wahlniederlage jeweils ausgefallen ist: „Lassen Sie mich doch zunächst unseren Wählerinnen und Wählern danken.“ Und statt Dank, so sagten die Abgeordneten, haben sie es eher mit dem Gegenteil zu tun: wütende Protestanrufe, wenn wieder einmal ein umstrittenes Reformwerk öffentlich diskutiert wird, die Steuern erhöht und die Renten faktisch abgesenkt werden.

Nun gehört es zu öffentlichen Ämtern wie dem von Abgeordneten, dass man einfach seine Pflicht tut und – wie meine Tanten – dafür keine Dankbarkeit einfordert. Aber die fehlende Dankbarkeit berührt gelegentlich schon etwas merkwürdig, allzumal wenn umgekehrt am kommenden Sonntag wieder Erntedank gefeiert wird, und das nicht nur in Kirchen.

An jenem Tag danken überzeugte Städter für die Ernte von Korn und Wein, und man fragt sich, ob sie das ernst meinen. Besser wäre es vermutlich, zu diesem Anlass einmal nach denen zu fragen, die keinen Dank erwarten und ihn doch verdient haben. In Enzensbergers Gedicht „Empfänger unbekannt“, einer einzigen Dankeshymne, finden sich wunderbare Zeilen: „Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel. Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn und für allerhand andere verborgene Organe, für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.“ Vielleicht sollte man denen, die vergeblich auf Dankbarkeit warten, einfach raten, das Wohltemperierte Klavier zu hören und dazu Bordeaux zu trinken.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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