zum Hauptinhalt

Gesundheit: Das bittersüße Leben

Psychologie der Sehnsucht: Ein Seminar über das Erbe des verstorbenen Alternsforschers Paul Baltes

Erfolgreich zu altern setzt Anpassung an Veränderungen voraus. Paul Baltes, der im November des vergangenen Jahres verstorbene Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Bildungsforschung und Doyen der deutschen Alternsforschung, machte das gern am Beispiel des Pianisten Arthur Rubinstein klar: Auf die Frage, wie er sich sein eindruckvolles Spiel bis ins hohe Alter erhalten habe, antwortete der, er vervollkommne durch Üben ständig sein Spiel, er gleiche mangelnde Geschwindigkeit dadurch aus, dass er vor schnellen Passagen betont langsam spiele – und nicht zuletzt wähle er die Stücke, die er vor Publikum zu Gehör bringe, sorgsam aus. Entwicklungspsychologen bezeichnen die drei Strategien als Optimierung, Kompensation und Selektion.

Selektion: Dass er zwischen Möglichkeiten auswählen muss und nicht alle Wünsche und Vorhaben verwirklichen kann, wird dem Menschen vor allem mit zunehmendem Alter schmerzlich klar – ist es doch nicht zuletzt eine Frage der (Lebens-)Zeit. „Das Vergehen der Zeit bewusst und unbewusst beobachten zu können, ist eine Eigenart des Menschen“, sagt die Psychologin Laura Carstensen von der Universität Stanford. Sie sprach am Freitag auf einer akademischen Feier, die das MPI zu Baltes’ Ehren ausgerichtet hatte. Jungen Menschen erscheint die Zeit als ausgedehnt, in Befragungen lassen sie verständlicherweise eine Ausrichtung ihrer Lebensziele auf die Zukunft erkennen. „Ältere leben dagegen eher im Augenblick, investieren in sichere Dinge und fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf emotional bedeutsame Ziele.“

Mit der verstärkten Wahrnehmung der Endlichkeit des Lebens – dem „Memento-mori-Effekt“ – wachse die Orientierung an Werten gegenüber der an Zwecken, meint Carstensens Trierer Kollege Jochen Brandtstädter. Er sprach zu einem der beiden eher unscharfen Alltagsbegriffe, die Paul Baltes gegen Ende seines Forscherlebens ganz unerschrocken zum Gegenstand der Fachpsychologie machte: Weisheit. Brandtstädter definierte den Begriff als „Fähigkeit, Mögliches von Unmöglichem zu unterscheiden“.

Das geschieht offensichtlich oft schweren Herzens. „Menschen bedauern, wenn sie auf ihr Leben zurückblicken, am meisten, was sie nicht getan haben“, erläuterte Alexandra Freund von der Abteilung für Angewandte Psychologie der Universität Zürich. Sie arbeitete mit Baltes an seinem letzten, unvollendeten Forschungsprojekt mit dem schönen Titel: „Developmental psychology of Sehnsucht“. Der Begriff, der an die deutsche Romantik gemahnt, ist als „lifespan longing“ nur unvollkommen in die englische Fachsprache einzubringen. In einer psychologischen Doktorarbeit, die Susanne Scheibe 2005 an der Freien Universität Berlin einreichte, wird Sehnsucht aus entwicklungspsychologischer Sicht als „wiederkehrende mentale Repräsentation gewünschter, alternativer Wirklichkeiten des Lebens(-verlaufs)“ definiert. Baltes, Scheibe und Freund, die sich in einer weiteren, noch unveröffentlichten Arbeit des schillernden Begriffs bedienen, nennen als psychologische Eigenarten der Sehnsucht zunächst das Gefühl der Unvollständigkeit des eigenen Lebens, das an einer persönlichen Utopie gemessen wird. Das löst ambivalente Emotionen aus, gesellt sich doch zum angenehmen Gefühl des unendlichen Strebens auch immer die Enttäuschung darüber, das Ersehnte nicht erreicht zu haben. „Es handelt sich also um eine bittersüße Erfahrung“, sagt Freund. In ihrer Stichprobe von 300 Erwachsenen zwischen 19 und 81 Jahren konnte die Arbeitsgruppe zeigen, dass Sehnsucht ein „empirisch messbares Konstrukt“ ist. Nicht deren Intensität, sondern die Inhalte scheinen sich im Verlauf des Lebens zu verändern. So berichtete Freund, dass die Befragten erst ab dem mittleren Lebensalter häufiger von ihrer Sehnsucht nach einer erfüllten Partnerschaft berichteten. Mögliche Erklärung: Für Jüngere ist die gelungene Beziehung noch ein konkretes, erreichbares Ziel, später wird sie als schwerer realisierbar erkannt.

Dazu passt, dass die Psychologen bei ihren Versuchspersonen einen negativen Zusammenhang zwischen der Stärke der Sehnsucht und dem Grad des Wohlbefindens ermittelten. Welchen entwicklungspsychologischen „Sinn“ kann die „bittersüße“ Erfahrung also haben? Freund sieht zwei Funktionen der Sehnsucht für die psychische Entwicklung des Menschen: „Sehnsucht hilft, dem Leben eine Richtung zu geben und mit dessen Unvollkommenheit fertig zu werden.“

Nur wer die Sehnsucht kennt, kann daran reifen? Mit der Frage, die das unabgeschlossene Forschungsprojekt aufwirft, schloss sich auf jeden Fall der Bogen zu den einleitenden Worten von MPI-Direktor Gerd Gigerenzer, der Baltes attestierte, Weisheit nicht nur beforscht, sondern auch persönlich besessen zu haben.

Adelheid Müller-Lissner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false