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Gesundheit: Das Comeback

Aids gilt in Deutschland als Krankheit der 80er Jahre – aber die Seuche kehrt zurück

Er sagt: Das ist auch für mich nicht einfach. Irgendwo zwischen Hoffnung und Horror die Mitte zu finden. Er seufzt. Er versucht es mit einem 50 Zentimeter langen Poster, klappt es auf. Zum Vorschein kommen 32 Tabletten, weiße, gelbe, groß und bunt wie Bonbons, beschriftet mit kryptischen Kürzeln, B25, GX CC2, GS FC2. Er sagt: Sie können wählen – nehme ich ein Kondom oder riskier ich es und lass mich auf diese Geschichte ein?

Aids in Deutschland im Jahre 2005. Kaikawus Arastéh, 50, Direktor der Klinik für Infektiologie am Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin, er blickt auf sein Pillen-Poster und sagt: Die Therapie fängt mit zwei bis acht Tabletten an. Täglich. Schon bald werden es mehr, und am Ende „reichen 20 Pillen nicht“. Der Arzt wird zu Ihrem besten Freund, ob Sie’s wollen oder nicht. Selbstverständlich ziehen die Medikamente Nebenwirkungen nach sich, sie reichen von Diabetes bis hin zu dieser eigentümlichen, entstellenden Fettverschiebung: Fettpolster aus Gesicht, Arm und Beinen verlagern sich in den Nacken und die Bauchregion, plötzlich hat man einen Stiernacken.

Ja, sagt Arastéh, mit dem Aids-Virus HIV lässt es sich leben. Hier zumindest. Global gesehen geht es uns sogar gut. Den 49 000 Infizierten in Deutschland stehen weltweit 40,3 Millionen gegenüber. Wer sich bei uns ansteckt, kann auf über 30 zugelassene Medikamente zurückgreifen und gehört damit zu einer kleinen, privilegierten Minderheit.

Aber auch in Deutschland sind nicht wenige Infizierte zusätzlich belastet: Sie haben eine weitere Infektion aufgeschnappt, ihre Viren sind gegenüber den Arzneimitteln resistent geworden oder sie leiden unter anderen Komplikationen. Dann landen sie in Arastéhs Klinik.

Wie Markus. Er hockt im Schneidersitz auf einem Bett in einem kargen Stationszimmer, im Hintergrund läuft der Fernseher, RTL. Markus war 15, als er vom Bodensee nach Berlin kam und so richtig die Puppen krachen ließ, jeden Scheiß mitmachte, „ick kam ja vom Lande, wo die Uhren langsamer ticken und hatte den Verstand eines Elfjährigen“. Die nächsten sieben Jahre hing Markus am Heroin.

Heute ist Markus 35, mager, sein Gesicht ist gelb angelaufen. HIV ist sein kleineres Problem, sein großes heißt Hepatitis. Deshalb ist er hier. Er gehört zu jenen Patienten, die nicht mit acht und nicht mit 20 Tabletten klarkommen. Er gehört zu den komplizierten Fällen.

Die so selten nicht sind: Ein Drittel der HIV-positiven Patienten in Westeuropa hat sich zusätzlich mit Hepatitis C infiziert, besonders hoch ist der Anteil der Drogenabhängigen. Die Hepatitis-Viren vermehren sich in der Leber, es entsteht eine chronische Entzündung, die das Organ nach und nach zerstört. Seit einem Jahr wartet Markus auf eine neue Leber, doch noch ist sie nicht in Sicht.

Markus spricht langsam, benommen von dem Koma, aus dem er erst seit kurzem wieder erwacht ist. Er spricht über die heutigen Jugendlichen. Er sagt: So ungefähr jeder zweite oder jeder dritte Jugendliche hat keine Ahnung von Aids oder nimmt die Sache nicht ernst. Aids? „Das ist ne Krankheit, sagen die mir, die gab es mal, ein Problem von Schwulen, Drogensüchtigen. Das ist mir egal, da gibt es doch Tabletten! Die wissen nicht, dass das eine Krankheit ist, die zum Tode führt“, sagt er und verbessert sich gleich: die zum Tode führen kann. Am Ende des Jahres, schätzen Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts in Berlin, werden in Deutschland wieder um die 750 Aids-Patienten gestorben sein.

Aids in Deutschland: 1996 war das Jahr der Wende. Seit damals gibt es eine „Kombinationstherapie“, bestehend aus drei bis vier Klassen von Medikamenten. Sie attackieren das Aids-Virus an verschiedenen Stellen und hemmen so dessen Vermehrung. Die Zahl der Todesfälle ging rapide zurück, es kam zu immer weniger Neuinfektionen. 2001 erreichten diese einen Tiefstand: nur noch geschätzte 1425 Menschen infizierten sich.

Doch der Rückwärtstrend hat sich umgekehrt. Aids steht vor einem Comeback. Die Zahl der HIV-Neuinfizierten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: 2002 steckten sich 1635 Menschen an, 2003 waren es 1827, ein Jahr später 2058, und 2005 werden sich etwa 2600 Menschen neu infiziert haben.

Besonders hoch ist der Anstieg der Neuinfektionen bei den 20- bis 25-Jährigen – bei jenen, die den Aids-Schock der 80er Jahre mit den abgemagerten Körpern in den Talkshows nicht erlebt haben. Vor allem schwule Männer sind von HIV betroffen, sie machen bei uns 70 Prozent der Patienten aus. Manche von ihnen ziehen sogar einen Kick aus dem Spiel mit dem Tod, treffen sich auf „Bareback-Partys“, wo es ohne Gummi zur Sache geht (Bareback heißt so viel wie: „ohne Sattel reiten“). „Dieser Anteil ist aber relativ klein“, sagt Stefan Cremer, 44, der Psychologe auf Arastéhs Station. „Bei den meisten ist es eher so, dass sie Bescheid wissen, nur dann kommt halt die Party, dann kommen die Partydrogen und der Alkohol, und die Hemmungen fallen, und da lässt man das Kondom auch mal weg.“

1997 gaben 73 Prozent der unter 45- jährigen Singles an, immer, häufig oder zumindest gelegentlich Kondome zu verwenden, laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln. Letztes Jahr ist die Zahl auf 69 Prozent gesunken. Das mag damit zusammenhängen, wie die Leute die Lage wahrnehmen: Vor zehn Jahren hielten 60 Prozent der Deutschen Aids für eine der gefährlichsten Krankheiten – heute sieht das nur noch ein Drittel so. Aids hat seinen Schrecken verloren.

Eine gefährliche Fehleinschätzung, wie Arastéh meint. Die HIV-Neuinfektionen in Deutschland werden aller Voraussicht nach weiter steigen. Ein Grund dafür sind auch die explodierenden Ansteckungsraten in Osteuropa. In der Ukraine ist schätzungsweise eine halbe Million Menschen HIV-positiv, „doch kaum jemand kümmert sich darum“, sagt der Arzt. „Während der orangenen Revolution letztes Jahr waren die Medien voll von Bildern aus der Ukraine, die halbe Million HIV-Infizierter wurde aber nicht einmal erwähnt!“ Prostituierte, die nach Deutschland oder an die Grenze Deutschlands kommen, geben das Virus an ihre Freier weiter, die Männer stecken wiederum ihre Partnerinnen an.

Und während die Zahlen weiter steigen, sinkt der Etat für die Aids-Aufklärung („Gib Aids keine Chance!“) der Bundeszentrale. Betrug er früher mal 25 Millionen, so stagniert er nun schon seit Jahren bei 9,2 Millionen Euro. Die Spots sind zurückgegangen, ebenso wie die Berichterstattung in den Medien. „Die EU tut so gut wie gar nichts, die Bundesregierung diskutiert und diskutiert, aber es passiert wenig, und ich fürchte, das wird unter der großen Koalition nicht anders sein“, schimpft Kaikawus Arastéh. „Kampagnen wie die Mach’s-Mit-Aktion genügen nicht, damit erreichen Sie die heutigen Jugendlichen doch nicht mehr.“

Jede Generation, sagt der Arzt, muss vielmehr aufs Neue auf ihre Sexualpraktiken angesprochen werden.

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