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Alleine. Viele Hinterbliebene suchen Hilfe, doch es fehlen Experten. Foto: p-a/Design Pics

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Gesundheit: Das große Schweigen

Wer Suizid begeht, ist oft psychisch krank. Zahlreiche Vorurteile erschweren die Präventionsarbeit. Auch Hinterbliebene werden von den Stigmata belastet. Unterstützung finden sie in Selbsthilfegruppen.

Die Trauer nach einem Suizid ist meist besonders schwer: Denn der Tod kommt oft ganz plötzlich, es gibt keine Chance, sich zu verabschieden. Die Hinterbliebenen können die Tat nicht begreifen und sind zwischen Sehnsucht und Wut hin- und hergerissen. Patricia Gerstendörfer zum Beispiel: An das erste Jahr nach dem Tod ihres Partners im August 2007 hat sie so gut wie keine Erinnerung. „Ich habe es irgendwie überlebt“, erzählt sie am Telefon. Im Hintergrund glucksen ein paar Kinderstimmen, die 40-Jährige arbeitet in einer sonderpädagogischen Schulklasse. Der Kontrast zum Thema des Telefonats könnte nicht größer sein. Sie, die Überlebende, fühlte sich taub, hatte Schuldgefühle und kam mit den Reaktionen ihres Umfelds nicht zurecht. „Das hat mich wirklich aufgeregt, wenn mir die Leute gesagt haben, dass die Zeit doch alle Wunden heilt.“

Ein paar Monate später findet sie endlich Menschen, die sie verstehen, weil sie ähnliche Erfahrungen machen mussten: Sie besucht eine der beiden Berliner Selbsthilfegruppen der Organisation Agus (Abkürzung für „Angehörige um Suizid“). Der Verein unterstützt Betroffene, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben. Als ihre Vorgängerin 2010 die Gruppenleitung aufgibt, übernimmt sie diese Aufgabe. „Ich habe mir meine Tage vollgestopft, eigentlich mache ich das bis heute.“ Inzwischen hat Patricia Gerstendörfer auch eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht, weil sie anderen Betroffenen so gut wie möglich helfen möchte.

In Berlin haben im vergangenen Jahr 331 Menschen Suizid begangen. „In ganz Deutschland nehmen sich jedes Jahr rund 10 000 Menschen das Leben, mehr als 100 000 versuchen es“, sagt Armin Schmidtke auf einer Pressekonferenz, die vor drei Wochen anlässlich des „Welttags der Suizidprävention“ in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus stattfand. Schmidtke ist Vorsitzender des Nationalen Suizidpräventionsprogramms und sitzt an diesem Septembervormittag an einem langen Tisch vor seinen Unterlagen. Er will die Pressekonferenz auch dazu nutzen, über „das Stigma“ zu sprechen – über Vorurteile, die die Suizidprävention immer wieder behindern. Und darüber, wie diese Vorurteile das ohnehin schwierige Leben der Hinterbliebenen von Suizidenten belasten. Für deren Probleme habe die Öffentlichkeit bislang kein angemessenes Bewusstsein. Schmidtke sieht ebenso wie die anderen Gesprächspartner auch die Medien in der Verantwortung. Denn nach der zum Teil sensationslüsternen und detaillierten Berichterstattung über Robert Enke seien die Suizidzahlen wieder angestiegen. Es sei wichtig, dass die Medien mit dem Thema zurückhaltend umgingen.

Den Begriff „Freitod“ findet Schmidtke falsch, weil er nach einer selbst gewählten Entscheidung klingt. Dabei stecke hinter Suiziden tiefe Verzweiflung. „Die große Mehrheit aller Suizide und Suizidversuche findet auf dem Boden einer psychischen Erkrankung statt“, erklärt auch Beate Lisofsky, Pressesprecherin des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker. Diese psychischen Erkrankungen sind mit vielen Vorurteilen behaftet – so werden Schizophrene oft als gewalttätig und unberechenbar eingestuft, Menschen mit Depressionen oder einer Suchterkrankung gelten als wenig willensstark. Stigmata, die sich für die Betroffenen oft wie eine „zweite Krankheit“ anfühlen. „Die Ausgrenzung findet nicht immer offen statt, sondern häufig auch verdeckt und schleichend“, sagt Lisofsky. Die Stigmatisierung könne so nicht nur den Heilungsprozess beeinträchtigen, sondern häufig auch eine frühzeitige Diagnose und eine Behandlung verhindern. Denn aufgrund der negativen Besetzung von psychischen Erkrankungen gehen viele Betroffene nicht oder erst sehr spät zum Arzt. Dadurch erhöht sich ihr Suizidrisiko.

„Die Selbststötungsgefahr ist bei Alkoholabhängigkeit zehnmal erhöht, bei Drogenabhängigkeit sogar um das zwanzigfache“, erklärt die Medizinerin Barbara Schneider aus Köln. Laut Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation kann eine Behandlung von Alkoholismus die Suizidraten um rund acht Prozent verringern. Beate Lisofsky und Barbara Schneider warnen davor, Menschen mit psychischen Erkrankungen auszugrenzen. „Es ist sehr wichtig, auch als Kollege oder Nachbar den Kontakt zu diesen Menschen aufzunehmen oder zu halten, Hilfe anzubieten und sie bei der Suche nach professioneller Beratung zu unterstützen“, erläutert Lisofsky.

Auch Elisabeth Brockmann ist an diesem Vormittag ins St. Hedwig-Krankenhaus gekommen. Die Diplom-Sozialpädagogin leitet die Bundesgeschäftsstelle von Agus in Bayreuth. Die Organisation gibt es seit 1989. „Suizid ist die am stärksten tabuisierte Todesart, sie macht Angst“, erklärt Brockmann. Deshalb hätten viele Menschen ein hohes Distanzbedürfnis – und das wiederum führe zu Vorurteilen und Stigmatisierungen gegenüber Betroffenen. Das Wort „Selbstmord“ lehnt Brockmann entschieden ab. „Mord ist ein furchtbares Verbrechen. Der Begriff wird der Situation der Menschen, die Suizid begehen, nicht gerecht.“ Für die Angehörigen sei es schlimm, wenn ihre verstorbenen Partner, Eltern oder Kinder als „Selbstmörder“ bezeichnet würden. Schließlich will niemand das Wort Mörder in Zusammenhang mit einem geliebten Menschen gebracht wissen. „Zu den Vorurteilen gegenüber Hinterbliebenen gehört, dass sie das doch hätten verhindern können – und etwas hätten merken müssen“, sagt Brockmann. Zu schaffen machen vielen Familien nicht nur diese stillen Vorwürfe, sondern auch das Unverständnis, mit dem auf ihr Trauer reagiert wird. „Ihnen wird dann gesagt, dass der oder die Verstorbene es doch so gewollt hat.“

Die Vorurteile führen manchmal auch dazu, dass die wahre Todesursache verschwiegen wird. Auch Patricia Gerstendörfer hat in ihrer Gruppe Hinterbliebene, die den Suizid ihrer Angehörigen bislang nicht öffentlich gemacht haben. Für diese Menschen ist Agus der einzige Ort, an dem sie offen über alles sprechen können. Die meisten Betroffenen, die zu ihr in die Selbsthilfegruppe kommen, rufen vorher an. Manchmal meldet sich wochenlang niemand, dann wieder sind es drei Anrufe innerhalb von fünf Tagen. „Bei uns gibt es keine Warteliste, wer Rat sucht, kann gleich zum nächsten Treffen kommen.“

Die Hinterbliebenen möchten oft auch eine Therapie machen, doch es gibt zu wenige Experten. „Für viele Therapeuten sind Tod und Suizid nur Randthemen, mit denen sie sich bislang kaum oder gar nicht beschäftigt haben“, meint Gerstendörfer. Diese Lücke müsse so schnell wie möglich geschlossen werden. Sie selbst möchte sich weiterhin engagieren, wie alle anderen Gruppenleiter tut sie das ehrenamtlich. Im Moment ist sie für den Publikumspreis des Deutschen Engagementpreises nominiert – und hofft, dass viele Menschen online für sie abstimmen. Denn dann könnte sie das Angebot noch weiter ausbauen. Patricia Gerstendörfer verabschiedet sich, sie muss zurück. Die Kinder warten auf sie.

Kontakt und Hilfe: www.agus.de

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