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Gesundheit: Das Schweigen der Gene

Forscher prüfen eine neue Behandlungstechnik gegen die „Makula-Degeneration“ – die häufigste Form der Erblindung im Alter

Als Paul R. eines Morgens erwachte, konnte er die roten Leuchtzahlen seines Weckers nicht mehr entziffern. Die Ziffern waren zwar groß wie immer, aber vollkommen unscharf. Etwas stimmte nicht. Der damals 78-jährige Mann konnte gerade noch erkennen, dass der Wecker an seinem Platz auf dem hölzernen Tisch stand – und dass die Zahlen da waren. Aber war es Sieben oder Neun? Sobald er genau hinsah, verschwamm die Uhrzeit. Wohin er blickte, entzogen die Dinge sich seinem Auge.

Heute, fünf Jahre später, hat Paul R. zahlreiche Arztbesuche hinter sich. Er leidet, wie etwa ein Viertel der über 65-Jährigen in Deutschland, an der „Makula-Degeneration“. Damit ist die Erkrankung, bei der die wichtigste Stelle der Netzhaut schleichend zerstört wird, die häufigste Ursache für das Erblinden im höheren Lebensalter. „Ich kann nicht mehr lesen“, sagt Paul R. „Ich sehe Unebenheiten im Weg nicht. Ich bin immer auf fremde Hilfe angewiesen.“

Die Krankheit ist nicht heilbar. Aber es gibt Therapien, die sie aufhalten können. Nun ist eine ganz neue Form der Behandlung hinzugekommen: RNA-Interferenz, kurz RNAi (RNA ist das Kürzel für Ribonukleinsäure, den kleinen Bruder der Erbsubstanz DNA). Mit der Technik lassen sich Gene gezielt ausschalten. Das Verfahren wird bereits an einer kleinen Gruppe von Patienten geprüft. „Die ersten Zwischenergebnisse sind positiv: Wir haben keine Nebenwirkungen durch das Medikament festgestellt“, sagt Alexander Brucker, Leiter der Studie vom Pharmaunternehmen Acuity Pharmaceuticals in Philadelphia. Noch in diesem Jahr will er das Gesamtergebnis vorstellen.

Die Makula ist jener nur wenige Millimeter große Teil der Netzhaut, der uns zum scharfen Sehen verhilft. Wenn im Alter die Trennwand zwischen der Netzhaut und den Blutgefäßen, die das Auge versorgen, brüchig wird, können neue Adern in das feine Gewebe des Auges eindringen und es zerstören. Diese Form der Makula-Degeneration nennt man „feucht“, im Gegensatz zur „trockenen“ Variante, bei der keine Blutgefäße einwandern.

Ursache für das Wachstum der Blutgefäße ist ein Eiweiß namens „Vascular Endothelial Growth Factor“, VEGF. Wird das Eiweiß gebildet, ist das für die Adern das Signal, sich auszubreiten. Und an der Stelle kommt das neue Verfahren ins Spiel: Mit der RNA-Interferenz wird die Produktion von VEGF gestoppt. Dafür wird eine Lösung in das Auge gespritzt, die kurze RNA-Stränge enthält. Die Moleküle sind so konstruiert, dass sie gezielt das VEGF-Gen ausschalten und damit die Bildung des Eiweiß unterbinden.

Die Forscher hoffen auch andere Krankheiten mit der RNAi-Technik behandeln zu können. Die Idee, schädliche Gene zum Schweigen zu bringen, ist verlockend. Die Schwierigkeit besteht aber unter anderem darin, die therapeutischen Moleküle an Ort und Stelle zu bringen. Wie soll zum Beispiel sichergestellt werden, dass bei einer Viruserkrankung das Medikament alle die Zellen erreicht, die vom Virus befallen sind?

Die Makula-Degeneration eignet sich da besser, weil man die RNA-Moleküle direkt ins Auge spritzen kann. Und weil das Sehorgan recht gut isoliert ist, bleiben die Moleküle auch da und versickern nicht in andere Gewebe.

Ein zweites Problem, dem Forscher bei anderen Krankheiten begegnet sind, ist bei der Makula-Degeneration ebenfalls schnell gelöst: Normalerweise ist es schwierig, die RNA-Stränge in die Zellen hinein zu bekommen. Biologen tüfteln derzeit an Techniken, mit denen sich die Moleküle in die Zellen schleusen lassen. Bei der Makula-Degeneration sorgen praktischerweise jene Zellen, die zu viel VEGF bilden, zugleich dafür, dass fremde Substanzen aus dem Auge heraus transportiert werden. Sie fressen Fremdstoffe und damit auch die therapeutische RNA. So gelangt das Medikament fast von selbst an seinen Zielort.

Doch auch die neue Therapie hat ihre Schattenseiten. Eine Injektion in das Auge ist nicht ganz ungefährlich. Die Sicherheit und auch die Effektivität des Medikamentes muss erst noch genau geprüft werden. Und wenn eines Tages tatsächlich die feuchte Makula-Degeneration mit der RNAi-Technik behandelt werden kann, so wird man damit wahrscheinlich nur das Einwachsen von neuen Blutgefäßen verhindern können. Die Krankheit könnte zwar aufgehalten werden. Aber die einmal zerstörten Teile der Netzhaut würde man auch mit dieser Methode nicht wiederherstellen können. So ist dieser Ansatz zwar ein Paradebeispiel für die Therapie mit RNAi und ein Fortschritt, aber keinesfalls eine Wunderkur.

Sina Bartfeld

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