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Gesundheit: Das Völkerrecht der Schurkenstaaten

Der große Theoretiker John Rawls engagierte sich gegen US-Politik

Auf den ersten Blick könnte man den einflussreichen amerikanischen Philosophen John Rawls für einen idealistischen Utopisten halten, Wohnanschrift: Elfenbeinturm in Wolkenkuckucksheim. Vollständig scheint er bei seinen Gesellschafts- und Gerechtigkeitsmodellen von historischer Wirklichkeit und aktuellen politischen Fragen zu abstrahieren. Durch den Empirieverzicht bekommen seine „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) oder das „Recht der Völker“ (2002) eine kristalline Klarheit.

Der Ende letzten Jahres verstorbene Rawls verbindet die Vertragstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts mit der modernen Spieltheorie und entwirft so aus wenigen Vorannahmen die Grundzüge einer gerechten Gesellschaft und einer gedeihlichen Ordnung der Völker. Seine schnörkellosen Konstruktionen streben in geradezu kantischer Manier nach Grundsätzlichkeit und Allgemeingültigkeit. Rawls lud seine Theorien so mit großer prinzipieller Durchschlagskraft auf – die Sekundärliteratur wird auf 5000 Titel geschätzt. Das ist freilich erkauft mit einer strengen Apartheid gegenüber den Gegenwartsproblemen: Den konkreten politischen Ort seiner Entwürfe verhängt ein Schleier der überhistorischen Abstraktion.

Umso überraschender war es, bei einem Symposium zu seinen Ehren im Einstein Forum von einem John Rawls zu hören, der sich durch intensive Zeitgenossenschaft auszeichnete: Immer wieder beschäftigte er sich mit den Atombomben-Abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, die er als Kriegsteilnehmer im Pazifik erlebte. Er hielt sie für völkerrechtswidrig, da sie die Zivilbevölkerung trafen und nicht durch eine extreme Notlage geboten waren. Hier wollte er auch in die öffentliche Debatte intervenieren. Rawls frühere Assistentin Susan Neiman, jetzt Leiterin des Einstein Forum, erzählte, dass Rawls mit einem Leserbrief an die New York Times gegen die Behauptung protestieren wollte, die Atombomben-Abwürfe schadeten dem Ansehen von Harry S. Trumann nicht. Die New York Times druckte diesen Brief nicht.

Auch in seinen letzten Lebensmonaten verfolgte Rawls die US-Regierungspolitik mit großer Intensität: Der Abbau ziviler Rechte in der Innen- und der Kriegskurs in der Außenpolitik betrübten ihn. In der Irak-Frage hatte er, so Neiman, eine vollkommen eindeutige Haltung: Bei ihrer letzten Begegnung im September, als die Frage einer Militärintervention aktuell wurde, sei Rawls „entsetzt“ gewesen und habe sich „absolut gegen einen Präventivschlag“ gewandt.

Die theoretische Basis für die regierungskritische Position des späten Rawls findet sich in seinem letzten Buch über Völkerrecht, wo er Kriege nur im Verteidigungsfall für legitim hält – auch gegenüber „Schurkenstaaten“. Neben das Bild des nüchternen Vertreters kategorialer Strenge tritt das eines aufmerksamen politischen Beobachters. Es fügt sich, dass Rawls ein Faible für Bob Dylan hatte.

Gerwin Klinger

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