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Gesundheit: Das Wunder von Konstanz

Geisteswissenschaftler vom Bodensee waren im Elitewettbewerb mit dem Thema Integration erfolgreich – als Einzige ihrer Zunft

Die Hoffnung der deutschen Geisteswissenschaft hat eine neue Zimmernummer: F521. Hier, in der fünften Etage des Flügels F der Universität Konstanz, sitzt Rudolf Schlögl. Der 51 Jahre alte Professor ist Historiker. Seit zwei Wochen aber ist er vor allem Sprecher des einzigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Exzellenzclusters, also großen Forschungsvorhabens, das im Elite-Wettbewerb überlebt hat. 150 Seiten ist der erfolgreiche Antrag stark, ein kleines blaues Büchlein, das vor Schlögl auf dem Tisch liegt. Manchmal muss er selbst nachschlagen, um das Ausmaß des neuen Forschungsprojektes vollständig zu beschreiben.

16 Konstanzer Wissenschaftler haben sich zusammengetan, um die „Kulturellen Grundlagen von Integration“ zu ergründen. Nun schüttet sich über ihnen ein Füllhorn von jährlich bis zu 6,5 Millionen Euro aus: Daraus entstehen eine Akademie für Gastforscher, vier neue Lehrstühle, drei Nachwuchsgruppen, ein Doktorandenkolleg, dazu bessere Kinderbetreuung und Wiedereinstiegsprogramme für Mütter. Von 70 neuen Stellen geht Schlögl aus. Ein einsamer Erfolg. Von 17 bewilligten Clustern widmen sich 16 den Naturwissenschaften. „Wir stehen unter einer besonderen Beobachtung, was wir daraus machen“, sagt Schlögl darum, „das ist ein seltsames Gefühl.“

Doch Zeit für Gefühle bleibt kaum, auch nicht für den Blick aus dem Fenster auf die Insel Mainau im Bodensee. Während Zeitungen Nachrufe auf die Volluniversität drucken, muss Schlögl rasch Büroflächen für Historiker, Soziologen, Juristen und Literaturwissenschaftler finden. Die Klagen über die im Wettbewerb ausgebremsten Geistes- und Sozialwissenschaften nennt Schlögl einen großen Irrtum. „Das ist das flexibelste Forschungsprogramm, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft jemals aufgelegt hat“, sagt er. Auch der Konstanzer Rektor Gerhart von Graevenitz, selbst Literaturwissenschaftler, hat für Selbstmitleid kein Verständnis. „Die Geisteswissenschaftler haben es sich selber nicht leicht gemacht“, sagt er. Wer dauernd erkläre, Verbünde seien nichts für seine Disziplin, dürfe sich nicht wundern, wenn es am Ende keine gebe. Als vor zwei Wochen das Ja zum Konstanzer Cluster kam, lagen sich von Graevenitz und Schlögl im Rektorat in den Armen.

Manchmal hören die Konstanzer Vorwürfe, sie hätten sich mit dem Titel Integration dem Zeitgeist angebiedert. „Das Thema trifft den Resonanzraum der öffentlichen Diskussion“, sagt auch Schlögl – der als Geisteswissenschaftler bislang eher rechtfertigen musste, wozu seine Wissenschaft praktisch überhaupt tauge. Nun also umgekehrt: Es gehe nicht um Politikberatung, sagt er, sondern um Grundlagenforschung, um Voraussetzungen sozialer Strukturen, um Deutungsprozesse und Sinnkonstituierung. An solch fachlichen Debatten sind die Kollegen, die bei Schlögl anrufen, aber meist gar nicht interessiert. Sie fragen, ob er das blaue Büchlein nicht einmal schicken könne. Doch der Wortlaut des Antrags bleibt unter Verschluss. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man unseren Antrag als Blaupause nutzen kann“, sagt Schlögl, „das ist doch sehr vom Standort abhängig.“

Manche Frage aber beantwortet sich schon auf dem Weg zu Schlögls Zimmer. Wer zu ihm will, passiert im Betoncampus Räume von Mathematikern und Soziologen, auch Wirtschaftsforscher und Psychologen arbeiten hier. Die Architektur der vor 40 Jahren gebauten Hochschule lässt Fachgrenzen verschwinden. Heute ist der Bau ein Sanierungsfall. Die Kosten für die Instandsetzung werden auf 176 Millionen Euro beziffert, was nebenbei bemerkt die Höhe der Elite-Mittel relativiert. Doch mancher Gedanke der unter anderem von Lord Ralf Dahrendorf gegründeten Universität trägt bis heute: Es gibt keine Institute, dafür aber eine Bibliothek für alle Fächer. Statt in Fakultäten gliedert sich die Universität in drei Sektionen, eine geistes-, eine sozial- und eine naturwissenschaftliche. „Man braucht ein eingespieltes Team von Forschern, die bereits gelernt haben, miteinander zu reden“, antwortet Schlögl, wenn er den Erfolg begründen soll.

Er und seine Kollegen sind geübt im Schreiben von Anträgen. Die Grundausstattung eines Konstanzer Lehrstuhls beträgt gerade 3000 Euro im Jahr, jeden weiteren Cent müssen die Forscher von außen einwerben oder beim Uni-Ausschuss für Forschung beantragen. Bei der Hitliste der Geldeinwerber der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) liegt die Universität gemessen an der Zahl der Professoren auf Platz fünf. Von 2002 bis 2004 flossen 43,7 Millionen Euro zusätzlich an die Universität, 18,2 Millionen Euro davon auf das Konto der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Rektor verkündet in jeder Rede als Konstanzer Motto: „Nach dem Antrag ist vor dem Antrag.“ Was früher wie ein Fluch klang, ist jetzt beklatschtes Erfolgsrezept. Der Prorektor für Forschung, der Biologe Bernhard Schink, ließ bei der Feier über den Clustererfolg seinen Sekt stehen. „Ich muss noch einen Antrag für einen Sonderforschungsbereich fertigschreiben“, rief er an einem späten Freitagnachmittag.

Konstanz war über Jahre die einzige Universität mit drei geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen (SFB). Noch gibt es zwei, dazu ein Graduiertenkolleg. „Ohne diese Erfahrung wäre der Antrag in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen“, sagt Schlögl. Im SFB „Norm und Symbol“ arbeiten Forscher verschiedener Fächer seit sechs Jahren an Fragen zur Integration. Schlögl hat in den vergangenen Monaten nicht nur den Exzellenzantrag bearbeitet, sondern auch eine erfolgreiche SFB-Verlängerung. Dazu organisierte er den Deutschen Historikertag mit. Kollegen loben seine integrative Kraft.

Schlögl sagt, die Geisteswissenschaften zwängten sich zu stark in Epochen, Themen oder Disziplinen. Es gehe bei ihren Verbünden aber um ein methodisches Dach, unter dem sich Einzelforscher Fragen stellten. „Irritationszusammenhänge“ nennt er das, „auf diese Weise entsteht etwas Neues“. Für sich hofft der Historiker, der Raum F 521 verwandele sich bald von einer Organisationszentrale zurück in eine Denkerstube. Ziel des Clusters seien auch für ihn „mehr Freiraum und Zeit für Forschung“. Doch ein für diesen Winter geplantes Forschungssemester hat er erst einmal abgesagt.

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