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© E. Eichler

Demenz: Walzer gegen das Vergessen

Alzheimer-Patienten versinken langsam im Nichts. Doch Tanzen hilft, die Erinnerung zurückzubringen. In Berlin gibt es mehrere Organisationen, die Tanzcafés für Demenzkranke anbieten.

Maria Helbig* hat sich in Schale geworfen und ist aufgeregt wie ein Backfisch. Denn heute geht die 98-Jährige aus. Dazu muss sie lediglich vier Etagen abwärts fahren in den Speisesaal des Elisabeth-Seniorenzentrums in Friedrichshain. Dort versammeln sich nach und nach gut vier Dutzend Heimbewohner und ihre Pfleger zu einer lieb gewordenen Feier. Jeden vierten Freitag im Monat bittet Musiktherapeutin Susanne Hausmann zum geselligen Tänzchen bei Kaffee, Kuchen und Livemusik. Und das will kaum einer der meist hoch betagten Menschen versäumen.

Das Bemerkenswerte: Viele der Gäste leiden schwer oder sogar sehr schwer an der Alzheimer-Krankheit. Sie können sich nicht mehr orientieren. Sie können sich nicht mehr erinnern. Sie wissen nicht, ob es morgens oder abends ist, ob Sommer oder Winter, ob sie schon gegessen haben oder nicht. Diesem Zustand des Versinkens im Nichts hat Susanne Hausmann mit dem Alzheimer-Tanzcafé den Kampf angesagt, „um den Prozess der unaufhaltsamen Auflösung der Persönlichkeit ein Stück weit zu bremsen“, wie sie sagt. Ein zähes, mühseliges Ringen, das sie nicht wirklich gewinnen kann. Aber indem sie dem Gedächtnis auf die Sprünge hilft und verschüttete Erinnerungen zum Leben erweckt, will Hausmann den erkrankten Menschen Würde und Selbstwertgefühl wiedergeben sowie Geborgenheit vermitteln. Sie knüpft dabei an Fähigkeiten an, die im Gehirn noch vorhanden sind. Dazu zählen zum Beispiel alle Musikerfahrungen, die man in der Jugend erworben hat und die lange Zeit abrufbar bleiben. Während das intellektuelle Gedächtnis im Verlauf der Krankheit verloren geht, bleibt das emotionale Gedächtnis unbeschädigt. „Die Musik geht direkt ins Gefühl und ruft wach, was in den Köpfen noch da ist“, sagt Hausmann.

Die 49-Jährige aus dem holsteinischen Itzehoe hat Kirchenmusik in Köln und Musiktherapie an der Berliner Universität der Künste studiert. Seit 2003 arbeitet sie im Elisabeth-Seniorenzentrum und kennt jeden Bewohner aus der täglichen Arbeit und Pflege. Die Idee zum Tanzcafé kam ihr beim Besuch einer ähnlichen Veranstaltung in Zehlendorf. Da sie selbst Pianistin ist, trommelte sie einige Musiker aus ihrem Bekanntenkreis zusammen – das Salonorchester war geboren.

Jetzt legt es los mit Schlagern, Operettenhits und Gassenhauern. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ schmachten Cello, Geige, Klarinette, Klavier und Kontrabass, und schon nach ein paar Takten – man mag es kaum glauben – betreten die ersten der betagten Tänzer das Parkett. Was lange verschüttet war, ist bei manchem schlagartig wieder da. Einige summen, andere singen laut mit beim „Frühling von Berlin“, und einige kommen sogar ins Reden. Hilde Sommer* erwacht aus ihrer Reglosigkeit, schäkert kokett mit ihrem Tanzpartner und erinnert sich plötzlich wieder an ihre drei längst verstorbenen Ehemänner, die leider niemals mit ihr zum Tanzen gegangen waren. Anna Wildes* Augen leuchten, sie lacht und streichelt ihrem Tänzer zärtlich über die Wangen. Sogar die ganz schwer an Alzheimer erkrankte Rosemarie Kreibel steht nach fünfzehn Minuten auf der Tanzfläche, lächelt versonnen vor sich hin und dreht sich zum „Wiener Blut“ langsam im Kreis.

Wie aber kann Tanzen brachliegendes Wissen und Können reaktivieren? Was löst es im Gehirn aus? Und wieso gilt Tanzen sogar als beste Vorsorge gegen eine Demenz? Hans Gutzmann, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Krankenhaus Hedwigshöhe, erklärt das Phänomen ganz simpel: „Wenn ich etwas habe, womit ich sowohl körperlich aktivieren als auch die Stimmung heben kann, wirke ich in zwei Richtungen optimierend.“ Genau das finde beim Tanzen statt. Patienten kämen in Bewegung, „das Bein hebt sich, und die Stimmung gleich mit“, so Gutzmann. Fest steht: Durch eine komplexe Aktivität wie Tanzen werden im Gehirn ausgedehnte Strukturen neu belebt, die vorher gewissermaßen „eingeschlafen“ waren. Werden solche Aktivitätsschübe in regelmäßigen Abständen ausgelöst, steigt die Chance, dass Nervenzellen sich neu zu verschalten beginnen und das Gehirn wieder leistungsfähiger wird. Doch Tanzen ist nicht nur ein wichtiges Therapieinstrument, es wirkt auch vorbeugend gegen das Verarmen der Nervenzellen in der Großhirnrinde, die für Gedächtnis, Denkvermögen und Sprache verantwortlich sind. Körperliche Aktivitäten allein – das haben wissenschaftliche Studien ergeben – stimulieren zwar den Stoffwechsel im Gehirn, können den Untergang der Nervenzellen aber nicht verhindern, das Risiko einer Alzheimer-Erkrankung also nicht senken. Wird Bewegung hingegen mit geistiger Anstrengung gekoppelt, verzögert sich dieser Prozess. Beim Tanzen werden Bewegung und Gedächtnisleistung auf einzigartige Weise miteinander kombiniert. Das Lernen von Schrittkombinationen in rhythmischem Zusammenhang schult das Gedächtnis nachweislich besonders intensiv. Und es trainiert Gleichgewicht und Orientierungssinn ebenso wie Anpassungs- und Improvisationsfähigkeit – Eigenschaften, die das Gehirn braucht, um im Alter fit zu bleiben. Für Professor Gutzmann kommt noch etwas anderes hinzu: „Tanzen macht einfach Spaß. Und Aktivitäten, die Spaß machen und wirken, sind denen, die keinen Spaß machen und wirken, mit Sicherheit vorzuziehen.“

Nach anderthalb Stunden Streicheleinheiten für die Seele ist die Stimmung auf dem Höhepunkt. „Veronika, der Lenz ist da“ jubiliert das Orchester und viele auf dem Parkett und an den Tischen singen mit. Andere sind erwacht und nehmen zumindest ihre Umgebung wahr. Einige aber auch verharren in Starre wie Edith Trautmann*, bei der die Kuchengabel vor Minuten schon auf halber Strecke zwischen Teller und Mund eingefroren ist. Für Susanne Hausmann und die Mehrheit ihrer Patienten ist der Nachmittag dennoch wieder ein Erfolg: „Auch wenn die Menschen eine schwere Demenz haben – es erfüllt sie mit Stolz, ein Lied noch singen zu können, seine Struktur und Melodie noch nachvollziehen zu können. In dem Moment, in dem wir singen, fühlen sie sich geborgen, fühlen sie sich zu Hause. Es ist vertrautes Leben.“

*Namen geändert

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