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Gesundheit: Denn sie wissen nicht, was sie tun

FU-Studenten „streiken“ gegen den neuen Bachelor. Dabei war das Studium früher viel schlimmer

Eine Woche lang haben Studenten der Freien Universität „gestreikt“. Ihre Forderungsliste ist lang – und überraschend. Denn vor allem wehren sich die Aktivisten gegen die Reform des Studiums. Wie bitte? Haben nicht Generationen von Studierenden unter den alten Bedingungen gelitten? Absolventen von damals staunen, wenn die streikenden Studentinnen und Studenten nichts sehnlicher wünschen als „die Erhaltung der Magister-, Diplom- und Lehramtsstudiengänge“, die sie auf Platz eins ihrer Wunschliste gesetzt haben. War die Uniwelt vor dem Bachelor wirklich so heil, wie jetzt manche suggerieren? Zwei Tagesspiegel-Mitarbeiter, die in den neunziger Jahren in Berlin studiert haben, konfrontieren den Wunsch nach der alten Zeit mit der damaligen Realität – und wehren sich gegen die Verklärung der Vergangenheit.

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Klage 1: „Die Vermittlung oberflächlichen Überblickswissens im Bachelorstudium darf wissenschaftliche Tiefenarbeit nicht ersetzen.“ (Aus der Resolution der FU-Studierenden)

Sicher, ein Überblicksseminar, das ganze Epochen in wenigen Monaten abhandelt, ähnelt auf den ersten Blick dem Unterricht einer 12. Klasse. Wer jedoch wissenschaftlich arbeiten möchte, braucht zuerst dieses großes Bild. Wie soll man sonst Fragestellungen jemals richtig in den Kontext einordnen? Bisherige Studentengenerationen haben Überblickswissen schmerzlich vermisst. Sie studierten verstreute Mosaiksteine, die nie ein zusammenhängendes Ganzes ergaben. Ein Erstsemester wählte in Geschichte zum Beispiel die Vorlesung „Der Konservatismus in Russland im 18. und 19. Jahrhundert“, das Proseminar „Einblicke in römische Machtmechanismen“ und eine Übung: „Einführung in den kreto-mykenischen Schriftkreis“. Das Vorlesungsverzeichnis wurde von den aktuellen Lieblingsthemen der Dozenten diktiert, waren diese noch so abseitig. Wer versuchte, sich einen roten Faden selbst zu erarbeiten, wurde von der Uni allein gelassen. Denn das Handwerkszeug des Wissenschaftlers wurde meist nicht gelehrt. Kein Wunder, dass viele Studenten – völlig orientierungslos – die Uni ohne Abschluss verließen. Wenn damals einer behauptet hätte, dieses selbstbestimmte Lernen sei herrlich, wäre er ausgelacht worden. Diese Freiheit war nichts anderes als der Zwang zum Dilettantismus des Autodidakten.

Klage 2: „Die Universität wird total entmenschlicht. Früher konnte man mit Professoren reden und größere Räume suchen, heute entscheidet das System.“ (die Studentin Jenny Simon auf „Spiegel online“ zur Beschränkung der Teilnehmerzahl in den Bachelor-Kursen an der FU auf 30 )

Jenny Simon verherrlicht etwas, dass sie offenbar nie kennen gelernt hat – nämlich das Massenstudium ohne Zulassungsbeschränkung. Wie sah diese Freiheit aus? In den neunziger Jahren standen Trauben von Studierenden vor den geöffneten Türen der überfüllten Seminare an der FU, um vielleicht doch noch ein Wort des Dozenten zu erlauschen. Heute regen sich Germanistik-Bachelor auf, weil ihnen das zwei Wochen lang wegen eines Verwaltungsfehlers passiert ist. Damals war so der Normalzustand. Ein Grundkurs für Erstsemester in Germanistik hatte 180 Teilnehmer, man hielt „Massenreferate“ in Zwölfergruppen. Nicht anders als heute herrschten Frust und Aggression – mit dem Unterschied, dass sich damals kein Dekan und keine Unileitung um Abhilfe bemühten. Zum Hauptseminar „Kafka“ kamen 300 Interessierte. Der Professor schlug vor, jeweils 100 Studierende sollten alle drei Wochen zu einer sechsstündigen Marathonsitzung am Sonnabend zusammenkommen. Toll.

Klage 3: „Das System arbeitet mit einem überzogenen Informations- und Kontrollanspruch und droht so die Lehr- und Lernatmosphäre zu zerstören. Es besteht die Gefahr, ,Toll collect-iviert‘ zu werden.“ (Hajo Funke, Politologie-Professor, der sich mit der Kritik von Studenten an der neuen Verwaltungssoftware solidarisiert)

Worin die von Funke beschriebene angenehme Lernatmosphäre bestanden haben soll, ist jenen schleierhaft, die vor Einführung der Software ihren Formularen auf dem ganzen Campus nachrennen und stundenlang vor Prüfungs- und Praktikumsbüros anstehen mussten, um sich anzumelden. Dabei wurden sie dann auch noch oft von unfreundlichen Mitarbeitern schikaniert. Für Geschichte-Studierende der FU war es sogar üblich, in Schlafsäcken vorm Prüfungsbüro zu übernachten. Am schlimmsten war die Jagd nach den Scheinen. Manche Professoren korrigierten die Hausarbeiten erst nach Monaten oder gar nach mehreren Semestern. Es war ihnen gleichgültig, ob deshalb ein Praktikum, ein Auslandssemester oder eine Zwischenprüfung platzte. Gut, dass dank der Campus-Software nun sofort offenbar wird, wenn ein Professor sich auf dem Rücken der Studierenden viel Zeit gönnt. Klar, dass Funke solche Kontrolle verabscheut.

Klage 4: „Klausuren sind zu schreiben, Klaus ist bald resigniert. Das Wissen wird in Scheiben von ihm reproduziert.“ (aus dem FU-Streiksong „Klaus, der Student“)

Die Bachelor-Studenten müssen in der Tat viele Prüfungen ablegen, in den Naturwissenschaften ist die Belastung zu groß. Aber wenn hier nachjustiert wird, bleiben die studienbegleitenden Prüfungen ein echter Gewinn. Denn die Zensuren fließen in die Endnote für das Studium ein. Was für eine Erleichterung und wie viel mehr Gerechtigkeit! Erst nach zwölf oder vierzehn Semestern kamen früher die Abschlussprüfungen – und sie allein zählten. Alle Hausarbeiten, Referate und Klausuren, die man vorher geschrieben hatte, konnten ins Altpapier geworfen werden. Sie waren für die Endnote wertlos. Viele Studenten zogen ihr Studium deshalb endlos in die Länge oder machten ihren Abschluss nie – weil sie Angst vor der alles entscheidenden Prüfung hatten. So sozialdarwinistisch war das Studium.

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Ja, die Kritik an Kinderkrankheiten des Bachelors ist berechtigt. Aber sollten die Studierenden wirklich die alten Zeiten zurückwünschen?

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