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Gesundheit: Der Anschlag, der die Antike veränderte

Es geschah vor zweitausend Jahren: Ein König im Nahen Osten rief zum Massaker an den Römern auf. Am Ende stand eine neue Weltordnung

Von Paul Mollenhauer

Home of the brave and land of the free – kein anderes Lied wird dieser Tage so viel gesungen werden. Dasselbe hätte bereits vor 2000 Jahren jeder Römer stolz über seine Heimat sagen können, die nicht nur republikanisch verfasst war, sondern auch die effektivste Armee der Welt besaß. Eine junge Nation, aus den Quellen der älteren Kulturnationen schöpfend, ethnisch und religiös offen, technikorientiert, machtbewusst, Hort von Freiheit und Gerechtigkeit und Beherrscher der Welt. Das ist Amerika, und das war Rom: verehrt, gefürchtet und verhasst. Und auch Rom hatte seinen 11. September, an einem Frühlingstag des Jahres 88 vor Christus.

Die Republik Rom, vom kleinen Stadtstaat zur Großmacht aufgestiegen, hatte im 2. Jahrhundert vor Christus weit in den Osten des Mittelmeerraums ausgegriffen. Dort beherrschten gottgleiche Monarchen die Reste des gewaltigen Alexanderreiches, das von Griechenland bis Afghanistan gereicht hatte. Überall sprach man Griechisch und war stolz auf die Traditionen dieses Kulturraumes, der viele Tausend Jahre alt war.

Den Nahen Osten stabilisieren

Der Niedergang dieser zerstrittenen Staaten hatte zwar zu dauerhaft instabilen Verhältnissen zwischen Schwarzem Meer, Persischem Golf und der Levante geführt, am stolzen Selbstbewusstsein der Herrscher des Orients hatte sich aber wenig geändert. Der Umgang mit den römischen Feldherren war für diese Könige nicht immer einfach. Die waren bloß für ein Jahr gewählte Beamte, sie stammten nicht von Göttern ab und sie waren den republikanischen Institutionen Rechenschaft schuldig: Waren sie nicht letztlich eine Art Diener oder Hofschranzen? Und dennoch traten sie selbstbewusst, nicht selten arrogant auf, und behandelten die ehrwürdigen Monarchen wie Bittsteller. Sie wussten schließlich, dass es häufig allein die Überlegenheit der römischen Waffen war, die die Situation im Nahen Osten stabilisieren konnte. Und der römische Senat hatte die Macht, als Schiedsrichter in die regionalen Streitigkeiten einzugreifen, missliebige Herrscher abzusetzen oder gefügige Monarchen huldvoll als „Freunde und Bundesgenossen des Römischen Volkes“ an der Macht zu halten und sie zu protegieren, wenn sie sich auf Kosten ihrer Nachbarn bereicherten.

Natürlich geschah dies nicht aus purer Freundlichkeit: Die politisch schwachen Fürsten des Ostens waren in der Regel immer noch von einem für die römischen Großbauern unvorstellbaren Reichtum, und die Römer ließen sich gut bezahlen. Außerdem nutzte die dauerhaft instabile Situation den Interessen der Römer. Besonders wohlhabende Landstriche machten die Römer dann zu Provinzen, in denen sich der römische Staat und nicht zuletzt die kaum kontrollierten Steuerpächter, die „Publicani“, maßlos bereichern konnten. Hier waren römische Beamte und römische Soldaten präsent, und sie schützten auch die Interessen der römischen Unternehmer. Ansonsten kümmerten sie sich jahrzehntelang wenig um die Zustände im Nahen Osten. Das antirömische Ressentiment der Völker des östlichen Mittelmeeres wuchs beständig.

König Mithridates VI. von Pontus, einem Königreich an der Südküste des Schwarzen Meeres, durfte sich zu den „Freunden des römischen Volkes“ zählen. Wenn er sich mit nicht selten rabiaten Methoden Landstriche seiner Nachbarn aneignete, drückten die Herren vom Tiber gern mal ein Auge zu. Mithridates aber, ein ehrgeiziger und charismatischer Mann, setzte auf die überall schwelende Römerfeindschaft und hoffte, die Imperialisten aus dem Westen ganz vertreiben und selbst zum Schutzherrn aller östlichen Nationen werden zu können. Das war zu viel für Rom, und der römische Statthalter der Provinz Asia ging unter fadenscheinigen Vorwänden gegen ihn vor. Da organisierte Mithridates ein Blutbad, wie es die Geschichte bis dahin nicht gesehen hatte.

Er sandte geheime Befehle an seine Verbindungsleute in allen Städten der Region. An einem genau bezeichneten Datum sollten sie alle zugleich zuschlagen. Die akribische Planung gelang. Die Römer ahnten nichts, und an jenem einen Tag im Frühling des Jahres 88 vor Christus brach das Morden über sie herein. Die Anhänger des pontischen Königs töteten in ganz Kleinasien alle Römer, derer sie habhaft werden konnten: Soldaten, Beamte, Händler, Bedienstete, Frauen, Kinder. Wer Römer versteckte, wurde getötet. Sklaven, die ihre Herren umbrachten, wurden freigelassen. Schuldnern, die ihre Gläubiger erschlugen, wurde die Hälfte der Summe erlassen. Wer sich in die Tempel flüchtete, wurde an den Götterstatuen getötet. Wer sich schwimmend zu retten suchte, wurde ertränkt. Der Terroraufruf verbot, die Ermordeten zu begraben.

Keine uneingeschränkte Solidarität

Die Quellen – darunter die „Römische Geschichte“ Appians und die Biografien Plutarchs – sprechen von bis zu 80 000 Opfern der aufwändig geplanten und detailliert vorbereiteten Aktion. Als „Vesper von Ephesus“ ging dieses beispiellose Massaker in die Geschichte ein. Es veränderte die römische Orientpolitik auf einen Schlag. Dieser Frühlingstag war der 11. September Roms. Dreißig Jahre Krieg im Nahen Osten folgten. Danach sollte die Region ein neues Gesicht haben, und auch die innere Verfassung Roms eine vollständig andere sein.

Augenblicklich brach der Konsul Sulla mit einem starken Heer in den Osten auf, um Rache zu üben, die römische Herrschaft wieder herzustellen und den Erzschurken Mithridates zu fassen – tot oder lebendig. Doch den Römern schlug keineswegs die uneingeschränkte Solidarität der Völker des Ostens entgegen. Mithridates erhielt vielmehr großen Zulauf, er wurde als Befreier gefeiert. Er ließ verbreiten, die Römer, dieses „zusammengelaufene Volk“ ohne Geschichte, planen die Zerstörung der alten Kultstätten des Ostens. Sie sprächen zwar stets großspurig von der Freiheit, in Wahrheit aber seien sie bloß auf die Macht der anderen eifersüchtig. Selbst das zivilisierte Griechenland, allen voran das altehrwürdige Athen, schloss sich dem Chefterroristen an und hoffte, die römische Vormacht abzuschütteln. Der gesamte griechische Osten drohte erstmals für eine gemeinsame Sache, den Kampf gegen Rom, mobilisiert zu werden.

Doch die römische Armee erwies sich auch dieses Mal als die beste der bekannten Welt. Athen wurde erobert, tagelang geplündert und verwüstet, die Heere des Mithridates mussten herbe Niederlagen einstecken. Dann jedoch schloss Sulla Frieden mit ihm und nahm ihn erneut unter den „Freunden des Römischen Volkes“ auf. Wie das? Sullas Soldaten verstanden ihren Feldherrn nicht mehr. Den aber drängten seine innenpolitischen Ambitionen, den Krieg rasch zu beenden, um den Ruhm des Sieges nicht mit seinen Konkurrenten, die ebenfalls herbeieilten, teilen zu müssen. In Rom konnte er nun als siegreicher General nach Belieben schalten und walten. Dass andere Länder und Regierungen in rascher Folge von Freunden zu Erzschurken und wieder zu Freunden wurden, störte die römische Administration offenbar wenig.

Mithridates seinerseits nutzte die nächste Gelegenheit, um seinen Herrschaftsbereich zu erweitern, und er konnte auch kleinere Erfolge gegen römische Befehlshaber verbuchen. Schließlich, nach zehn Jahren, sah sich der Senat erneut gezwungen, seinen besten General, Lucullus, in den Osten zu entsenden, um ein für allemal aufzuräumen. Mithridates wurde besiegt, sein Land erobert. Er floh ins benachbarte Armenien, mit dessen König Tigranes er verschwägert war. Der nahm ihn zwar nicht gerade beglückt auf, lehnte aber die herrischen Auslieferungsbefehle der Römer ab. Dass Lucullus daraufhin in Armenien einrückte, wurde selbst in Rom als völkerrechtlich bedenklich kritisiert. Die römische Armee stieß bis über den Euphrat vor und zerstörte die neu gebaute armenische Hauptstadt Tigranocerta bis auf die Grundmauern.

Meutereien seiner Soldaten und Intrigen seiner politischen Gegner führten zu Lucullus’ Abberufung. Sein mit nie gekannten Vollmachten ausgestatteter Oberbefehlshaber Pompeius erzwang die Unterwerfung des Tigranes und einen Herrscherwechsel in Pontus. Den Armenier nahm er als Verbündeten bei den römischen Klienten auf und spielte mit dem Gedanken eines Angriffs auf das jenseits des Euphrats gelegene Partherreich. Mithridates dagegen – mittlerweile ein alter Mann – floh nach Südrussland, wo er unermüdlich neue Verbündete für seinen Kampf gegen Rom zu gewinnen suchte.

Eine Art Osama bin Laden

Man ist versucht, in Mithridates eine Art Osama bin Laden der Antike zu sehen: Legendenumwoben, charismatisch und intelligent, skrupellos, schwerreich, rastlos im Kampf gegen den Westen, von den Römern verteufelt als schlimmster Verbrecher der Geschichte. Von seinen Anhängern im Nahen Osten verehrt als letzte Hoffnung der älteren Kultur und ihrer Religion, und schließlich zu stolz, um jemals lebend in die Hände seiner Feinde zu fallen.

Als am Ende, im Jahr 63 vor Christus, sein eigener Sohn gegen ihn intrigierte, um ihn an die Römer auszuliefern, ließ er sich in auswegloser Lage von seinen Untergebenen töten, um nicht den Triumphzug des Pompeius zu schmücken. Nach 25 Jahren erbitterten Kampfes war der letzte bedeutende Feind Roms im Osten tot.

Der Orient war nicht mehr derselbe. Überall richteten die Römer jetzt ihre Provinzen ein, kaum eine Regierung im Nahen Osten war nach Kriegsende nicht hoffnungslos bei Pompeius oder anderen Römern verschuldet – und nur ein einziger Staat, das Partherreich, blieb politisch von Rom unabhängig. Das Imperium reichte nun bis an den Euphrat und ans Kaspische Meer.

Doch auch Rom war nicht mehr dasselbe: Pompeius kehrte nach seinem gewaltigen Militärkommando, das er sich in einem Schreckensklima des allgemeinen Zusammenbruchs im Osten hatte übertragen lassen, als neuer „Alexander“ nach Rom zurück. Seine innenpolitischen Gegner und Konkurrenten waren erledigt, wenn es ihnen nicht gelang, sich vergleichbare Militärexpeditionen übertragen zu lassen. Am Ende führte diese immer blutiger ausgetragene Konkurrenz Rom zur Weltherrschaft und in den Bürgerkrieg, an dessen Ende die Monarchie des Augustus stand – und die „Pax Romana“. Gegen autoritäre und illiberale Politik, wenn sie sicherheitspolitisch gerechtfertigt wird und sich „außerordentliches prokonsularisches Imperium“ oder „Patriot Act“ nennt, hat die republikanische Vernunft es schwer.

Die Römer bezahlten ihre Stellung als Weltpolizist und als Supermacht der Antike jedenfalls mit dem Verlust ihrer republikanischen Verfassung.

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