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Gesundheit: Der Kandidat hat 100 Punkte ...

"Was zum Teufel sind Semesterwochenstunden?" Die Antwort auf diese Frage bringt schon so manchen inländischen Studienanfänger in Schwierigkeiten.

"Was zum Teufel sind Semesterwochenstunden?" Die Antwort auf diese Frage bringt schon so manchen inländischen Studienanfänger in Schwierigkeiten.Studiendekane an Hochschulen nach angelsächsischem Muster stellt sie vor geradezu unlösbare Probleme.Besonders dann, wenn einer ihrer Studenten in Deutschland studiert hat und nun seine Leistungen anerkannt haben will.Umgekehrt kennen wohl die meisten der hiesigen Studenten die Probleme, ihre Auslandssemester in Großbritannien oder den USA an deutschen Hochschulen anrechnen zu lassen - kommen sie doch meist mit sogenannten Credit-Points nach Hause.Jede Lehrveranstaltung, aber auch ein Praktikum und ein Diplom, wird mit Punkten versehen.Hat man genügend Punkte gesammelt, darf man sich zur Prüfung melden.

Die Europäische Kommission, die den europaweiten Studentenaustausch mit millionenschweren Programmen wie ERASMUS fördert, hat die mangelhafte Kompatibilität schon Mitte der 80er Jahre als Hindernis ausgemacht.Sie entwickelte 1987 eine verbindliche Schablone zur europaweiten Anerkennung von Studienleistungen, die sich am Credit-Point-Modell orientiert: das European Credit Transfer System (ECTS).Jede Lehrveranstaltung soll überall den gleichen Punktewert haben.Theoretisch ist damit eine Physik-Vorlesung von Madrid bis Helsinki fünf Credit-Points wert.30 Punkte sollen so pro Semester zusammenkommen.

Diesem System können sich die europäischen Hochschulen freiwillig anschließen, auch die deutschen sind interessiert.In einer Umfrage erklärten 85 Prozent der deutschen Hochschulen, sie wollten ab 1998 an dem ECTS-Programm teilnehmen - elf Jahre nach dessen Einführung.Doch in vielen Fällen blieb es bei der Absichtserklärung.Denn der Aufwand ist groß, wie das Beispiel der Fachhochschule für Wirtschaft (FHW) in Berlin-Schöneberg zeigt.Die FHW bietet zum Wintersemester erstmals ihr gesamtes Studienprogramm entsprechend den ECTS-Anforderungen an.Franz Herbert Rieger, Prorektor der Fachhochschule, erklärt, warum das so langwierig ist: "Wir mußten die gesamte Studienorganisation komplett umstrukturieren.Es muß gesichert sein, daß jeder Student mit den angebotenen Lehrveranstaltungen 30 Punkte pro Semester sammeln kann.Das zwingt die Hochschulen zu einer sehr straffen Disziplin bei der Semesterplanung."

Allerdings macht es die FHW ihren etwa 3000 Studenten nicht gerade leicht herauszufinden, wie viele Punkte die von ihnen besuchten Lehrveranstaltungen wert sind.Zwar hat die Fachhochschule vor zwei Tagen eine dickleibige Broschüre vorgelegt, in der alle Lehrveranstaltungen mit ihren Punkten dargestellt sind.Doch im offiziellen Vorlesungsverzeichnis sucht man diese Zuordnung vergebens.Und die ECTS-Broschüre kann man nicht kaufen.Nur 500 Exemplare wurden gedruckt, wovon die meisten an europäische Hochschulen verschickt werden.Lediglich zwei Exemplare werden im Akademischen Auslandsamt der Fachhochschule ausliegen.

Die Komplett-Anpassung an das ECTS macht die FHW in Berlin zum Vorreiter, doch bieten auch andere Hochschulen entsprechende Studiengänge an.So richtet die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) in Karlshorst zum Wintersemester eine Reihe von ECTS-Studiengängen ein."In allen fünf Fachbereichen gibt es dann entsprechende Angebote", sagt Rainer Knigge, Präsident der FHTW.Die komplette Angleichung dauere allerdings noch eine Weile."Wir haben 26 Fachgebiete, das sind wesentlich mehr als an der FHW."

Das gilt noch mehr für die Universitäten.Die Vielzahl geisteswissenschaftlicher Fächer erschwere die Einführung der Credit-Points,sagt der Leiter der Studienabteilung der Humboldt-Universität, Joachim Baeckmann."Je weniger ein Studium strukturiert ist, desto schwieriger wird die Einordnung in ein Punktesystem." Trotzdem biete auch die HU vor allem bei den international ausgerichteten Studiengängen eine Punkte-Abrechnung, allerdings noch nicht nach dem ECTS.Im Wintersemester starten darüber hinaus drei alte Studiengänge, die international kompatibel gemacht wurden: die Diplomstudiengänge Physik und Volkswirtschaftslehre, sowie der Magisterstudiengang Romanistik.Doch die Punkte müssen erst "übersetzt" werden, so Baeckmann."Was bei uns sieben Punkte wert ist, bringt in München vielleicht nur fünf" - ein zusätzlicher bürokratischer Aufwand, der durch ECTS eigentlich reduziert werden sollte.

Das "Übersetzungsverhältnis" regelt die HU mit Kooperationsverträgen.Nur so könne man darauf vertrauen, daß die andere Hochschule die gleichen Anforderungen stellt, so Baeckmann."Wir wissen dann, was der andere macht, und die wissen, was wir machen."

Auch die FHW akzeptiert nicht jede Leistung, nur weil dahinter Credit-Points stehen."Vertrauen ist gut, Kontrolle aber besser", meint Prorektor Rieger.Deshalb hat die FHW Kooperationsverträge mit 20 europäischen Hochschulen geschlossen.

Doch die Idee von ECTS ist eigentlich, daß jeder an allen angeschlossenen Hochschulen studieren kann, unter voller gegenseitiger Anerkennung seiner Leistungen.Bloß Punkte zu vergeben, macht also noch lange kein grenzenloses Studien-Europa.

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