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Gesundheit: Der Mann, der Weltmeisterin wurde

Männlich oder weiblich? Mit „Erik(A)“ kommt das einstmals heikle Thema Intersexualität ins Kino.

„Sie war nicht so ein Muttersöhnchen.“ Die ganze Verwirrung der alten Mutter über ihr heute 57-jähriges Kind liegt in diesem einen Satz. Sie: Das war Erika Schinegger, mit 18 Jahren im Jahr 1966 Skiweltmeisterin im Abfahrtslauf, der Stolz der österreichischen Nationalmannschaft. Ein auffallend stämmiges Bergbauernmädchen aus Kärnten mit auffallend rauer Stimme. Das zwei Jahre später nach mehreren Operationen in der Innsbrucker Uniklinik vom Mädchen zum Mann wurde, von Erika zu Erik. In seinem seit kurzem angelaufenen Film „Erik(A)“ zeigt der österreichische Dokumentarfilmer Kurt Mayer den „Mann, der Abfahrtsweltmeisterin war“.

Für Schinegger kam der Stein ins Rollen, als bei den ersten systematischen Untersuchungen von Leistungssportlerinnen im Jahr 1967 festgestellt wurde, dass die Weltmeisterin den männlichen Chromosomensatz XY trägt. Dass mit ihrer Tochter „etwas net stimmte“, hatte die Mutter da schon längst geahnt. Nicht nur, weil ihr Kind seine Puppen nicht mochte und sich einen Traktor wünschte. Sondern vor allem, weil Erika keine Brüste entwickelte und nicht ihre Monatsblutung bekam. Beim Skiverband will man jedoch keinen Verdacht gehabt haben, man sehe im Sport oft weniger weibliche Frauen, meint ein Sportarzt. Man legte der Skiläuferin nahe, Hormone zu nehmen. „Ich bin nur richtig gestellt worden“, sagt dagegen der Mann Erik, der aufgrund von Besonderheiten der Genitalien bei der Geburt zum Mädchen erklärt wurde, inzwischen in zweiter Ehe lebt und eine erwachsene Tochter hat.

Als intersexuell bezeichnen Mediziner Individuen, bei denen sich kein einheitliches Bild aus Chromosomensatz, Fortpflanzungsorganen und äußeren Geschlechtsteilen ergibt (siehe Infokasten).

Für die Eltern, die darauf eingestellt sind, dass ihr Kind ein Junge oder ein Mädchen ist, stellt die Konfrontation mit der Uneindeutigkeit oft einen Schock dar. Der Berliner Psychotherapeut Knut Werner-Rosen diagnostiziert bei ihnen oft ein „Geburtstrauma“. „Das ist heute durch die Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft noch verstärkt, denn die Eltern haben dadurch hinsichtlich des Geschlechts ihres Kindes meist klare Erwartungen“, sagt der Charité-Kinderarzt Heiko Krude.

In den 50er Jahren plädierte der amerikanische Sexualforscher John Money dafür, sich in solchen Fällen möglichst schnell für ein Geschlecht zu entscheiden. Aus operationstechnischen Gründen wurde es in der Mehrzahl der Fälle das weibliche. Später kritisierten Betroffene vorschnelle, einschneidende und falsche Eingriffe. Der US-Forscher Milton Diamond monierte, dass die Ärzte sich nicht genug für die Langzeitfolgen interessierten. Doch inzwischen komme es bei dem schwierigen Thema bei allen Beteiligten zu einer „neuen Nachdenklichkeit“, hofft Werner-Rosen.

In Deutschland laufen zum Thema Intersexualität zwei Forschungsvorhaben. Im Netzwerk Intersexualität werden neben den genetischen Grundlagen auch die Behandlungsformen und die Lebensqualität erforscht. Die Medizinische Universität Lübeck und das Hamburger Uniklinikum widmen sich der Fragestellung „Vom Gen zur Geschlechtsidentität“.

Die Fundamente für Behandlungsentscheidungen sind inzwischen wesentlich solider. Alle Neugeborenen werden auf den häufigsten Enzym-Defekt untersucht. „Heute bildet die molekulare Diagnostik die Grundlage für die richtigen Schritte“, sagt Krude. Sie ermöglicht meist in kurzer Zeit auch Aussagen darüber, wie sich das Kind in der Pubertät wahrscheinlich entwickeln wird. Bis die Ergebnisse vorliegen, sollten die Eltern es aushalten, dass ihr Kind noch keinen Namen bekommen kann. Beim häufigen Enzymdefekt handelt es sich dabei um wenige Tage.

Auf die Frage ihrer Verwandten und Freunde, was es denn sei, ein Mädchen oder ein Junge, antworten Eltern heute in Einzelfällen schon mutig: „Wir können es noch nicht entscheiden.“ Die Umwelt akzeptiere das, so die Erfahrung des Psychologen Werner-Rosen. Es geht schließlich um das Lebensglück von Jahrzehnten. Als Erik noch Erika war, ging man noch anders mit dem Thema um.

Adelheid Müller-Lissner

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