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Gesundheit: Der Mensch ist entziffert: Das Netz des Lebens

Stellen Sie sich vor, in einer Höhle in der Wüste wird ein altes Buch entdeckt. Der dicke Wälzer fasst das gesamte Wissen des klassischen Altertums über die Bedeutung des Lebens zusammen.

Stellen Sie sich vor, in einer Höhle in der Wüste wird ein altes Buch entdeckt. Der dicke Wälzer fasst das gesamte Wissen des klassischen Altertums über die Bedeutung des Lebens zusammen. Doch es stellt sich heraus, dass der Text in einem Code geschrieben wurde, den keiner knacken kann. Hier und da finden sich zwar einige Worte, die scheinbar aus dem Altgriechischen stammen; der größte Teil des Buchs besteht jedoch aus Worten, deren Bedeutung völlig unklar ist. Und die Sprachwissenschaftler beginnen langsam zu begreifen, dass nicht nur die Worte unbekannt sind, sondern dass ihre Bedeutung auch noch vom Kontext abhängt, in dem sie stehen. Es kann fast nichts von dem Fund entschlüsselt werden. Würde eine solche Entdeckung immer noch als Meilenstein der Menschheitsgeschichte gelten? Oder wäre sie nicht eher der Beginn einer langen und mühevollen Aufgabe?

Die beschriebene Situation gleicht der Entschlüsselung des ersten beinah vollständigen Entwurfs des menschlichen Genoms. Man kann es nicht einfach von Anfang bis Ende lesen. Hartnäckig hält sich dagegen die Vorstellung, dass es im Erbgut für jede Eigenschaft ein Gen gibt. Durch das Humangenomprojekt wurde dieser irreführende Gedanke leider verstärkt. Denn die Genomsequenzierung wird oft in Zusammenhang mit Krankheiten diskutiert, die durch einzelne Gene verursacht werden. Die meisten genetisch bedingten Krankheiten resultieren aber aus Wechselwirkungen vieler Gene.

Man sollte das Genom als Netzwerk betrachten, in dem Leben entsteht, ähnlich wie sich Kunst und Kultur in einer Gesellschaft entwickeln. Die Entschlüsselung unseres Erbguts symbolisiert damit den Anbruch einer neuen Ära. Die Biologie braucht neue Denkansätze. Sie gibt uns nicht zu verstehen, "was es heißt, ein Mensch sein". Sie lässt lediglich das ungeheure Ausmaß solch ehrgeiziger Bestrebungen erkennen. Die wirkliche Revolution der Zellbiologie ist nicht die Entzifferung der Genome von Mensch, Tieren und Pflanzen, sondern die Beobachtung von Genaktivitäten und Wechselwirkungen innerhalb der Sequenzen der Erbsubstanz DNS. "Der unmittelbare Gewinn der Genomsequenzierung ist die Fähigkeit, viele Gene zur selben Zeit beobachten zu können", so Patrick Brown und David Botstein von der Stanford Universität.

Normalerweise sind in einer Zelle zu jedem Zeitpunkt Tausende von Genen eingeschaltet. Wechselnde Umweltbedingungen ziehen komplexe Muster von Aktivierung und Deaktivierung nach sich. Bisher fehlt der Biologie das theoretische Grundgerüst, um solche Ereignisse beschreiben zu können. "In der Molekular- und Zellbiologie sind kompakte und elegante Theorien, wie es sie in der Physik gibt, selten", sagen Drew Endy und Roger Brent vom Molekularen Forschungsinstitut im kalifornischen Berkeley. "Erklärungen von Phänomenen werden bezeichnenderweise in einer Sprache abgefasst, die Wechselwirkungen als eine Vielzahl von distinkten molekularen Einheiten beschreibt." So sagen Biologen beispielsweise: Protein A schaltet Protein B ein, das dann Protein C aktiviert.

Diese Sichtweise muss sich ändern. Für die Biologen könnte es nun notwendig werden, Denkansätze aus den physikalischen Wissenschaften zu importieren. Physiker haben Theorien entwickelt, um das Verhalten einer gewaltigen Anzahl von Molekülen zu erklären, die sich alle mehr oder weniger zufällig in Flüssigkeiten und Gasen bewegen. Einige dieser Ideen erweisen sich nun als brauchbar, um etwa das Verhalten von Vogelschwärmen zu beschreiben.

Gene und Proteine stellen eine noch größere Herausforderung dar. Sie bewegen sich nicht zufällig, sondern treten selektiv mit bestimmten Partnern in Wechselwirkungen. Aber alles in allem wäre die Zellbiologie sehr ungewöhnlich, wenn sie nicht zumindest einige der Kollektivphänomene zeigen würde, die jeden anderen Winkel des Universums zu durchdringen scheinen.

Auch die Chemie hält methodische Ansätze bereit, die der Zellbiologie neue Perspektiven bieten. Atmosphärenchemiker simulieren routinemäßig die Reaktionen winziger Mengen von Spurengasen in der Luft, bei denen Dutzende oder sogar Hunderte von Reaktionen gleichzeitig ablaufen. Mit Hilfe des Computers können Forscher vorhersagen, wie sich die Luftverschmutzung in Städten im Laufe eines Tages verändert. Eines der beruhigenden Ergebnisse solcher Studien ist, das es oft Wege gibt, die Modelle zu vereinfachen, weil einige Parameter unbesorgt ignoriert werden können. Vereinzelt beginnen Biologen, vergleichbare Modelle für die Prozesse in der Zelle zu entwickeln. Hier treiben viele Proteine viele chemische Reaktionen voran. Teilweise stellen dabei die Produkte einer Reaktion Ausgangsstoffe für weitere Reaktionen dar.

Auch die aus dem Ingenieurswesen bekannte Selbstregulierung spielt in der Biologie eine wichtige Rolle. Wenn etwa der Zuckergehalt im Blut steigt, beginnt der Körper Insulin zu produzieren, was die Einlagerung von Zucker auslöst. Dieser Prozess stoppt jedoch, sobald der Blutzucker wieder die richtige Höhe erreicht hat. Zwischen der Zuckerkonzentration im Blut und der Insulin Produktion herrscht also eine Rückkopplung.

Nun prüfen Biologen, ob sich solche Konzepte auf die Zelle übertragen lassen. Leroy Hood, einer der Erfinder der automatisierten Gensequenzierung, hat in Seattle ein unabhängiges Institut für Systembiologie gegründet. Seine Forschungskooperation verfolgt das Ziel, die Zellbiologie mit den Informationswissenschaften zu vereinen.Letztlich soll ein Computermodell ermöglichen, die veränderlichen Genaktivitäten in einer Zelle vorherzusagen.

Seit der genetische Code geknackt wurde, ist die Molekularbiologie eine qualitative Wissenschaft gewesen: Biologen haben die molekularen Bestandteile der Zelle untersucht und klassifiziert, so wie die viktorianischen Zoologen Tierarten katalogisierten. Den Höhepunkt dieser Bemühungen markiert das Humangenomprojekt. Jetzt brauchen Biologen Modelle, um der gewaltigen Menagerie einen Sinn zu geben.

Philip Ball

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