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Gesundheit: Der Nachwuchs stürzt sich erstmals ins Nachtleben

Berlin bietet neben einem Fledermaus-Notruf auch ein eigens hergerichtetes Mausohrenquartier im Wasserwerk TegelKlaus Hart Bei Carsten Kallasch rufen jetzt täglich fast ununterbrochen wildfremde Leute an, wollen, dass er kommt, möglichst gleich, und sei es mitten in der Nacht. Kallasch wohnt im Westteil Berlins, doch die Hilferufe kommen vor allem aus Prenzlauer Berg und Pankow.

Berlin bietet neben einem Fledermaus-Notruf auch ein eigens hergerichtetes Mausohrenquartier im Wasserwerk TegelKlaus Hart

Bei Carsten Kallasch rufen jetzt täglich fast ununterbrochen wildfremde Leute an, wollen, dass er kommt, möglichst gleich, und sei es mitten in der Nacht. Kallasch wohnt im Westteil Berlins, doch die Hilferufe kommen vor allem aus Prenzlauer Berg und Pankow. Peinliche Panne: Da legt sich jemand mit seiner Liebsten amourös in den Pfuhl, durchs geöffnete Fenster dringen laue Lüfte, doch dann schwärmen ganz plötzlich und blitzschnell Invasoren herein: Vierzig, fünfzig, bis zu hundert Fledermäuse sausen zuerst über die Köpfe, kletten sich dann irgendwo reglos fest, bevorzugt in Gardinen.

Kaum jemand findet das cool - die Meisten wählen unverzüglich 79 70 62 87, die inzwischen erstaunlich bekannte Nummer des Fledermaustelefons in Kallaschs Wohnung. Der 34-jährige Biologe mit dem kecken Pferdeschwanz erklärt den Leuten dann geduldig, dass sich ganz junge Zwergfledermäuse in ihr Zimmer verirrt haben.

Gerade flugfähig geworden, suchen sie - noch völlig unerfahren - nach Quartieren für den Tag, für den kommenden Winter. Sie sind für den Menschen absolut harmlos und ungefährlich, dazu nur um die vier Gramm schwer, sie passen bequem in eine Streichholzschachtel.

Kallasch und sein Kollege Martin Lehnert könnten rund um die Uhr auf Achse sein, sie würden es dennoch nicht schaffen, in alle betroffenen Wohnungen zu fahren, die Tiere einzusammeln und anderswo wieder freizulassen. "Das hat eine Dimension erreicht, die wir nicht mehr bewältigen", kommentiert der Experte fast ein wenig bestürzt. Und er freut sich zugleich, konstatiert einen starken Bewusstseinswandel bei den Berlinern. Die achteten jetzt wie nie zuvor auf ihre nachtaktiven Mitbewohner, wüssten endlich mit Mausohren oder Großen und Kleinen Abendseglern positiv umzugehen.

Aber wurden nicht Fledermäuse häufig einfach totgeschlagen, jagten ihnen nicht gerade Kinder gerne auf den Dachböden unbarmherzig mit langen Stangen nach, ob in Berlin oder auf den Dörfern? "Nein, das ist vorbei", widerspricht Kallasch vehement,"bei Kindern ist das undenkbar - gerade sie sind doch von den Tieren fasziniert."

Dass er mit Lehnert und anderen hoch Engagierten auf der Spandauer Zitadelle seit Jahren vor allem Heranwachsende in die Geheimnisse des Fledermauslebens einweiht, hat sich ausgewirkt. Erst kommen die Kinder mit der ganzen Schulklasse zum aufregenden Schauraum mit den echten Vampiren und Flughunden und sehen zu, wie Martin Lehnert die Pfleglinge Adele und Adelheid, aber auch Bert, dem eine Kreuzberger Hauskatze den Flügel zerbiss, mit Mehlwürmern füttert. Später treibt es sie einzeln her, "nur, um noch mal eine Fledermaus zu streicheln", wie Kallasch erstaunt beobachtete.

"Die einzigen fliegenden Säugetiere, die dazu weit perfekter als moderne Militärjets Echo-Ortung betreiben, sich nur mit dem Gehör orientieren - das finden Kinder hoch interessant", fügt Lehnert hinzu. Und immer mehr Besucher kommen zu den Fledermausfesten auf der Zitadelle - das Nächste steigt, wie gemeldet, am 3. und 4. September, mit dreimal so großem Info-Forum wie im vergangenen Jahr, mit Disko, Experten aus acht Bundesländern und sogar von der Bundeswehr sowie "Schießen nach Gehör mit dem Blinden-Schützenverein Spandau".

Bereits von morgen an kann man sich bei einer abendlichen Führung ansehen, wie Hunderte von Wasserfledermäusen durch die Zitadellengewölbe schwirren und ihr künftiges Winterquartier inspizieren. Über Zehntausend bleiben schließlich, etwa von Oktober bis März, die Wenigsten sind aus Berlin.

Fernab, in der Provinz, fehlen häufig die Kallaschs und Lehnerts, dort bemühen sich aber Autodidakten erfolgreich um Aufklärung. Im kleinen Thüringer Dorf Oldisleben ist es Friseurmeister Norbert Röse, der durch die Schulen der Kyffhäuserregion zieht, jedes auch noch so versteckte Fledermausquartier in Kellern, Höhlen, alten Burgen kennt, der wegen seines erstaunlichen Engagements sogar von Bundespräsident Herzog empfangen wurde.

Zweiundzwanzig Fledermausarten gibt es in Deutschland - im Osten sind die Bestände bislang stabiler. Ausgerechnet in einer Brauereiruine in Frankfurt/Oder beispielsweise befindet sich das wichtigste heimische Quartier der Großen Mausohren - eine Art, die immerhin vierzig Zentimeter Flügelspannweite erreicht. Kurioserweise wurden die von Menschen viel geschmähten Plattenbauten wegen der vielen Fassaden- und Dachspalten nicht nur von Mauerseglern und Kleinvögeln, sondern auch von den Fledermäusen bevorzugt.

Doch die Fugen werden nun verputzt, wobei vor allem Zwergfledermäuse leicht lebendig begraben werden. Allein in Rostock vernichtet man sogar mit Wissen der Naturschutzbehörde rund achtzig Prozent der Quartiere - Proteste der Naturschützer, dass diese Tiere ebenso wie ihre Verstecke den höchsten EU-Schutzstatus genießen, eine fledermausgerechte Vollwärmedämmung problemlos möglich ist, fruchten nichts. Auch in Brandenburg fehlt nicht nur Baufirmen nötige Sensibilität.

Da läuft es in Berlin viel besser. Die Umweltverwaltung unterstützt seit 1987 ein "Artenhilfsprogramm Fledermäuse", ein speziell hergerichteter Keller des Wasserwerks Tegel wurde zu Berlins größtem Mausohrenquartier, nach Einschätzung des Biologen Kallasch "beinahe sensationell". Bauträger holen ihn, damit er Sanierungsobjekte begutachtet, und er empfiehlt fledermausfreundliche, von chlorierten Kohlenwasserstoffen freie Anstriche sowie vorgefertigte Unterschlupfe aus Hohlblocksteinen. Wer sie einbaut, kann dafür immerhin öffentliche Mittel beantragen. Dennoch sind alle fünfzehn Berliner Fledermausarten gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht. Nach Angaben der Grünen Liga geht der Vogelbestand in den östlichen Sanierungsgebieten um bis zu 90 Prozent zurück,"bei den Berliner Fledermäusen ist es wahrscheinlich ähnlich", meint Kallasch. Das kleine Häuflein von Experten weiß noch viel zu wenig, kennt nicht einmal die ungefähre Gesamtzahl der so nützlichen Insektenjäger. Bestens erforscht ist indessen, dass die Breitflügelfledermaus mit sanierter Bausubstanz zurechtkommt und deshalb im Westteil dominiert. Die Zwergfledermaus bevorzugt dagegen den Osten wegen der heruntergekommen Altbauten.

Dieses Jahr haben sich die Berliner Arten prächtig und verlustarm vermehrt, weil es zur rechten Zeit warm und feucht war. Kallasch sieht das an den durchweg gutgenährten Jungtieren, die er von fremder Leute Gardinen und Bilderrahmen klaubt. © 1999

Klaus Hart

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