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Gesundheit: Der russische Patient übt Selbstbewusstsein Ist Russland eine europäische Zivilisation oder erst auf dem Weg? Kocka: Europa öffnen und an Menschenrechten festhalten

Von Amory Burchard „Beratung beim Aufbau der Zivilgesellschaft“ schreiben sich deutsche Osteuropavereine ins Programm, die in Russland tätig sind. Demokratieverständnis und bürgerschaftliches Engagement sollen gefördert werden.

Von Amory Burchard

„Beratung beim Aufbau der Zivilgesellschaft“ schreiben sich deutsche Osteuropavereine ins Programm, die in Russland tätig sind. Demokratieverständnis und bürgerschaftliches Engagement sollen gefördert werden. Bei West-Ost-Städtepartnerschaften geht es um Hilfe beim Aufbau demokratischer Verwaltungsstrukturen. Russland sei für Westeuropa „der ewige Schüler, der versucht, ein guter Europäer zu werden“, sagt Alexej Miller, Historiker an der Moskauer Akademie der Wissenschaften und an der Central European University in Budapest. Aber der Schüler soll es nie schaffen, in der europäischen Zivilisation anzukommen – das brauche der ewige Lehrer als Legitimation seiner selbst.

„Slawische Kultur versus europäische Zivilisation?“ Was Alexej Miller Nachwuchswissenschaftlern eines Sommerkurses des Zentrums für vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) als provokative Frage stellte, wurde in der Vergangenheit immer wieder als Tatsache angenommen. Dabei war es Russland, das Ende des 19. Jahrhunderts mit der „Intelligenzija“ eine bürgerschaftlich engagierte geistige Oberschicht hervorbrachte. Damals, sagt Alexej Miller, gab es eine politisch-philosophische Strömung, die Slawophilen, die Russland als „potenziell besseres Europa“ sahen. Das russische Volk hätte Eigenschaften, die es vor der „Proletarisierung“ bewahren würden. Es kam anders.

Musste Russland mit dem Beginn der Perestroika und des Zerfalls der Sowjetunion in seiner Entwicklung als europäische Zivilisation wieder bei Null anfangen? Michail Gorbatschows Ruf „Zurück nach Europa!“ legte das nahe. In den knapp zwölf Jahren seit dem Ende seiner Regierungszeit scheint der russische Schüler – oft auch als „der russische Patient“ gesehen – selbstbewusster geworden zu sein. Sein Land, sagt Alexej Miller, habe auch schon unter Stalin zu Europa gehört. Es gäbe nicht die gute europäische Geschichte, aus der ein Begriff der „europäischen Zivilisation“ abgeleitet werden könne.

So sieht es auch Jürgen Kocka, einer der Direktoren des 1998 von der Freien und der Humboldt-Universität gegründeten und von der Volkswagen-Stiftung geförderten ZVGE. Europäische Zivilisation sei definiert durch eine zwei Jahrtausende alte christlich-jüdische Tradition, durch seine Vielfalt und die Fähigkeit, damit umzugehen. Ebenso konstitutiv sind die Existenz mehrerer politischer Machtzentren, die frühe Trennung von Staat und Kirche, die Aufklärung und der Siegeszug der Menschenrechte, schließlich auch die Industrialisierung. Und über allem die Erfahrung von Diktaturen und zweier Weltkriege. Europäische Zivilisation erhebe als einzige den Anspruch, sich auf andere auszuweiten. In vorigen Jahrhunderten folgte daraus die Kolonialisierung anderer Regionen der Welt. Und heute? Europa sollte bei seiner Erweiterung nach Osten und Südosten in Bezug auf die Menschenrechte an seinem Universalisierungsanspruch festhalten, sagt Kocka. Gleichzeitig müsse es aber bereit sein, sich in diesem Prozess auch zu verändern, Wechselwirkungen zuzulassen.

Kockas Plädoyer für „offene Ränder“ der europäischen Zivilisation müsste in Russland gut ankommen. Dass Wladimir Putins Regierungsstil nicht dem einer modernen europäischen Regierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts entspreche, gibt Alexej Miller indes zu. Russland sei aber dabei, sich seinen europäischen Lehrplan selber zu schreiben. Die Europäische Gemeinschaft solle nicht weiter so tun, als ob Russland nicht nach Europa wolle, sondern seine Strukturen öffnen, beispielsweise indem es Russland in die Schengen-Zone aufnehme.

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