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Poster. Ernährungsberaterin Ilse Christodolou zeigt das Schulungsmaterial.

© DAVIDS

Diabetes: Zuckerkrank beim Zuckerfest

Rund 30 000 türkischstämmige Berliner leiden an Diabetes. Sie haben eine andere Einstellung zu ihrer Krankheit als Deutsche. Für die Behandlung ist es ausschlaggebend, Zugang zu ihrer Sprache und Kultur zu finden.

Butter ist kein Fett. Davon war die Frau im Krankenbett felsenfest überzeugt. Nein, nein, wenn sie Reis koche, nehme sie kein Fett. „Wirklich nicht?“, fragte Ernährungsberaterin Ilse Christodolou noch einmal nach. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Die Patientin war stark übergewichtig und litt an Diabetes Typ 2. Christodolou stand in ihrem Krankenzimmer im Vivantes-Klinikum am Urban in Kreuzberg, um sie zu beraten, wie sie ihre Ernährung umstellen könnte, um Folgeschäden der Krankheit zu vermeiden.

Sie kümmert sich dort um alle Patienten, die Diabetes haben. Auch wenn sie aus anderen Gründen eingeliefert werden, etwa nach einem Unfall. „Wenn sie schon mal hier sind, kümmern wir uns auch um ihre Diabetes“, sagt Hans Scherübl, Chefarzt der Inneren Medizin. Doch das ist oft nicht ganz einfach. Denn 30 Prozent seiner stationären Diabetespatienten sind türkischstämmig. „Es gibt 30 000 türkischstämmige Diabetiker in der Stadt“, sagt er. „Und viele von ihnen sprechen kaum deutsch. Denn die meisten Diabetespatienten sind über 50.“ Wie die Frau, mit der Christodolou über Fett sprach. Ihre Tochter dolmetschte. Irgendwann kam dann doch heraus, dass sie stets ein halbes Pfund Butter mit in den Topf tat. „Aber Fett bedeutete für sie nur Öl – nicht Butter“, erklärt Christodolou.

„Türkische Lebensgewohnheiten passen nicht zu Diabetes“, sagt Scherübl. Denn zu diesen Lebensgewohnheiten gehört fettes und sehr kohlehydratreiches Essen, und das erhöht das Risiko für Diabetes Typ 2, der auch Altersdiabetes genannt wird. Wenn sie an Börek und Baklava denkt, jene traditionelle, mit Sirup getränkte Süßigkeit, bekommt die 65-jährige Leyla Günes (Name geändert) einen verträumten Blick. Sie liebe das Essen, sagt sie in gebrochenem Deutsch. Aber jetzt sei ihr Motto: „Aufpassen beim Essen.“ Auch wenn das schwerfällt, wenn die ganze Verwandtschaft nach Sonnenuntergang um den Tisch sitzt und das Fastenbrechen im Ramadan feiert – mit Unmengen von Speisen. Oder das Zuckerfest, das den Abschluss des Fastenmonats bildet. Bei der 65-Jährigen, die seit 44 Jahren in Berlin lebt, wurde vor einem Jahr Diabetes diagnostiziert. Vorher hatte sie nie etwas von dieser Krankheit gehört. Und wusste nicht, dass zu viel Börek und Baklava krank machen können.

Bei einem Bluttest ihres Hausarztes kam es heraus. Er überwies sie an den Diabetologen Mahmoud Sultan, der selbst aus Syrien stammt und dessen Patienten in seiner Kreuzberger Praxis zu 50 Prozent türkischstämmig sind. „Ihre Einstellung zur Krankheit ist ganz anders als bei Deutschen. Besonders bei den Älteren“, sagt Sultan. „Sie sagen ,Inschallah, sterben müssen wir alle irgendwann’. Damit sie bereit sind, etwas zu unternehmen, muss ich ihnen erst klarmachen, dass nicht Sterben das Hauptproblem ist, sondern Folgekrankheiten einer nicht gut behandelten Diabetes: Herzinfarkte, Nierenschäden und Erblindung.“

In Sultans Praxis bringt die Diabetes-Assistentin Oya Türkoglu den türkischsprachigen Patienten in Schulungen bei, wie man mit der Krankheit lebt. Seit 2011 gibt sie ähnliche Schulungen auch am Urban-Krankenhaus. Chefarzt Scherübl hatte sich auf die Suche nach jemandem gemacht, der noch besser mit seinen türkischstämmigen Diabetes-Patienten über ihre Krankheit reden kann als Christodolou. Es gebe kaum türkischsprachige Diabetesberaterinnen in Berlin, beklagt er. Dabei sei Kommunikation Teil der Behandlung. Um erfolgreich zu sein, müssen Kultur und Sprache stimmen.

„Es gibt da diese kulturelle Differenz“, erklärt Christodolou. „Es sind immer sehr schöne Gespräche mit den türkischstämmigen Diabetikern, aber trotzdem komme ich oft nicht richtig an sie heran. Ich glaube, dass ich dadurch so einiges falsch eingeschätzt habe.“ Wenn Oya Türkoglu mit ihren Patienten spricht, spürt man hingegen keine Distanz. Sie streicht kurz, aber voller Zuneigung über die dicke Hand von Fatma Yagmur (Name geändert). Die 64-Jährige ist seit fünf Jahren Diabetikerin und kommt regelmäßig in die Praxis von Mahmoud Sultan – zu Oya Türkoglu. Die Patientin lebt zwar seit Jahrzehnten in Berlin, spricht aber kein Wort deutsch. „Sie hat eben nie hier gearbeitet“, sagt Türkoglu verständnisvoll. Auch diese Patientin hatte vor der Diagnose noch nie etwas von der Krankheit gehört, sie kann nicht einmal lesen und schreiben. Das sei bei vielen so, erklärt Türkoglu. Fatma Yagmur kann deshalb nicht einmal selbst ihre Blutzuckerwerte messen und dokumentieren. Dafür hat sie eine Pflegerin. Aber sie muss auch selbst etwas dafür tun, dass ihre Krankheit nicht schlimmer wird. Weil viele türkischstämmige Patienten nur wenig Schulbildung mitbringen, arbeitet Oya Türkoglu in ihren Schulungen viel mit Bildern. Für die Kurse am Urban-Klinikum hat sie spezielles Unterrichtsmaterial: „Was ist Diabetes?“, „Bewegung und Ernährung“, „Leben mit Diabetes“ und „Medikamente“ sind die Themen von vier großen Postern mit passenden Bildkarten, die von der Pharmafirma Lilly gestellt werden. Chefarzt Scherübl hat das Unternehmen für die Schulungen mit ins Boot geholt, es übernimmt auch das Honorar für Oya Türkoglu.

Vier Termine, die jeweils zwei Stunden dauern, gehören zu den Schulungen im Urban-Krankenhaus. Die können einiges verbessern – aber längst nicht alles. Schließlich geht es darum, sein ganzes Leben umzustellen: „Ach komm, iss doch von den Baklavas, das ist schon nicht so schlimm“, hört Leyla Günes immer wieder, wenn sie bei Freunden eingeladen ist. „Der Gastgeber bereitet den Teller vor. Es gilt als unhöflich, nicht alles zu essen“, erklärt Türkoglu. Sie bringt den Patienten in den Schulungen bei, wie sie mit Freunden und Verwandten über die Krankheit reden. Und dass sie ihre Teller selbst füllen sollen, etwa mit Hackfleisch und Auberginen – aber ohne Börek.

Leyla Günes sagt, das kriege sie inzwischen hin. Sie wiegt auch etwas weniger. Ihr Diabetes ist gut eingestellt. Ganz anders Fatma Yagmur. Gerade sind in der Praxis ihre Langzeitblutwerte gemessen worden. Daran könne man den langfristigen Erfolg der Behandlung sehen, erklärt Mahmoud Sultan. Yagmurs Werte sind nicht gut. Sie wiegt auch noch immer 132 Kilo bei einer Körpergröße von 1,50 Meter. Dabei esse sie doch gar keinen Zucker mehr und sogar Vollkornbrot. Oya Türkoglu zwinkert ein bisschen. Das glaubt sie nicht so ganz. Aber sie verliert die Hoffnung nicht. Vielleicht dringt sie ja irgendwann noch besser zu ihr durch. Die Sprache stimmt schon mal.

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