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Gesundheit: Die Biologin Lynn Margulis hält Symbiose für die treibende Kraft in der Evolution

Sie jagen, töten und fressen sich - tagtäglich beweisen Tausende von Tierarten, dass sich jeder selbst der Nächste ist. Die Darwinsche Doktrin einer natürlichen Selektion, das Überleben der Tauglichsten, hat sich durchgesetzt - zumindest in unseren Köpfen.

Sie jagen, töten und fressen sich - tagtäglich beweisen Tausende von Tierarten, dass sich jeder selbst der Nächste ist. Die Darwinsche Doktrin einer natürlichen Selektion, das Überleben der Tauglichsten, hat sich durchgesetzt - zumindest in unseren Köpfen. Diesen biologischen Materialismus hat der britische Zoologe Richard Dawkins in den 70er Jahren auf die Spitze getrieben, als er in seinem gleichnamigen Buch den "Egoismus der Gene" verkündete.

Einspruch meldet nun die amerikanische Zellbiologin Lynn Margulis an. Für sie ist die Evolutionstheorie der beiden britischen Naturforscher Charles Darwin und Alfred Russel Wallace, nach der genetische Mutation und die Auslese durch die Umwelt entscheidend sind, unvollständig. Obgleich Darwins 1859 erschienenes Werk "Über den Ursprung der Arten" auch der modernen Biologie das Fundament gab, sei die Herkunft neuer Arten noch keineswegs geklärt.

Lynn Margulis glaubt, dass Symbiose, das Zusammenleben von Organismen unterschiedlicher Arten in engstem körperlichen Kontakt, von entscheidender Bedeutung für evolutionäre Innovationen ist. Statt der scheinbar allgegenwärtigen Konkurrenz sieht die Biologieprofessorin der Universität von Massachusetts in Amherst die subtile Kooperation der Lebewesen als treibende Kraft der Natur. Solche Symbiosen hat Margulis selbst jahrzehntelang beim Zusammenspiel von Bakterien erforscht. Dabei konnte sie bestätigen, dass am Anfang der Entwicklung zu komplexen Lebewesen das Zusammenwirken zum beiderseitigen Nutzen zweier Bakterien stand. Aus diesen entwickelten sich dann Zellen mit Zellkern.

Erstmals sorgte Margulis mit ihrem 1970 publizierten Buch "Origin of Eukaryotic Cells" für Aufsehen. Darin stellte sie dar, dass die nukleinsäurehaltigen Organellen - etwa Mitochondrien -, die Bestandteile jeder "höheren" tierischen und pflanzlichen Zelle sind, stammesgeschichtlich auf eingewanderte, domestizierte Bakterien zurückgehen. Die "Gäste" haben dabei sogar im Laufe der gemeinsamen Evolution per Gen-Transfer Teile ihrer eigene Erbanweisung ausgelagert und an den "Wirt" abgegeben. Diese "Endosymbioten"-Theorie war ursprünglich bereits vor über einem Jahrhundert formuliert worden. Von Fachkundigen als "eine der gewagtesten, provokativsten und revolutionärsten Hypothesen der Zellbiologie und Evolutionsbiologie" eingeschätzt, war sie lange Zeit auf mitunter heftige Ablehnung gestoßen. Mit ihren Arbeiten hat Margulis wesentlich dazu beigetragen, dass die Vorstellung, Endosymbionten lebten als Zellen in einer mit ihr nicht verwandten Wirtszelle, nun zum Standardwissen der Biologie gehört.

Solch eine Endosymbiose ist die denkbar innigste Form von Koexistenz und Koevolution. Doch jenes Muster intimen Kontakts und dauerhafter Kooperation artfremder Organismen entdecken Biologen allerorten in der belebten Natur. So sind etwa Flechten Doppelwesen: Sie sind zusammengebaut aus Pilzen und Algen. Diese beiden Symbionten bilden gemeinsam ein neues Lebewesen, eine Art Superorganismus. Wie die Zellorganellen der Eukaryonten ergänzen sich die Partner auch bei dieser Symbiose in ihrem Stoffwechsel so gut, dass sie schließlich ganz aufeinander angewiesen und nicht mehr voneinander trennbar sind.

Doch nicht nur Flechten sind nur gemeinsam stark. Symbiose ist überall, so die These von Margulis. Auch die Sexualität, bei der genetisch höchst fremde Samen- und Eizellen verschmelzen, entstand als vorzeitig beendeter Akt des Kannibalismus von Zellen. Diese könnten sich einst saisonal zusammengeschlossen und dabei unsere Vorfahren hervorgebracht haben.

Lynn Margulis lenkt unseren Blick aber nicht bloß auf winzige Wesen des Mikrokosmos. Obgleich ihr Credo ist, dass auch wir Menschen das Ergebnis der Milliarden Jahre währenden Wechselwirkung zwischen höchst reaktionsfähigen Mikroben sind, hat die Biologin, die mit dem bekannten Astronomen Carl Sagan verheiratet war, inzwischen die ganze Welt im Blick. In ihrem jüngst erschienenen Buch "Die andere Evolution" (Spektrum Akademischer Verlag, 180 Seiten, 39,80 Mark) legt sie dar, warum für sie sämtliche Bewohner unseres Planeten einer symbiotischen Union angehören. Anschaulich beschreibt sie, wie sich das biologische Weltbild zur Entstehung der Artenvielfalt in den letzten Jahrzehnten durch die neuen Erkenntnisse vor allem der Zellbiologie und der Molekulargenetik gewandelt hat. Statt mit Darwin die Entstehung der Arten als fortschreitende evolutive Verzweigung zu sehen, glaubt sie, dass das Leben erst durch intrazelluläre Symbiosen zu dem wurde, was es heute ist. Dabei werden selbst weit getrennte Zweige wieder zusammengefügt und so zum Anfang neuer Verzweigungen. Margulis schlägt in ihrer etwas anderen Sicht der Evolution vor, das sich das Geäst des Stammbaumes vernetzen kann.

Im Klappentext ihres Buches als Biologin gefeiert, die zeitlebens den Mut bewiesen habe, gegen den Strom zu schwimmen, befindet sie sich einmal mehr nicht im mainstream der Wissenschaft - vielleicht aber wenigstens in dem des Zeitgeistes. Im Anblick von Firmenfusionen, Joint ventures, Globalisierung und Internet beschwört Margulis mit ihren Thesen auch ein neues Paradigma für die Biologie.

Sie versucht in ihrem Buch auch, die Brücke zu der universellen Sichtweise der "Gaia-Theorie" zu schlagen. Diese wurde von dem englischen Chemiker James E. Lovelock Anfang der 70er Jahre formuliert, der damals im Auftrag der US-Weltraumbehörde Nasa Methoden entwickelte, um Leben auf dem Mars nachzuweisen. Dabei wurde ihm klar, dass das Leben auf jedem Planeten die vorhandenen Substanzströme - etwa Atmosphäre, Meere, Seen und Flüsse - nutzen muss, um die lebensnotwendigen Elemente in einen Kreislauf zu bringen. Lovelock behauptete, das Leben als Ganzes optimiere mithin seine Umwelt zu seinem eigenen Nutzen. Demnach sei "Gaia", die Mutter Erde, lebendig und sämtliche irdische Organismen stünden miteinander in Berührung. Anhänger der Gaia-Hypothese wie Margulis sehen die Erde seitdem als ein umfassendes, sich selbst regulierendes Geflecht aus Ökosystemen. "Gaia ist Symbiose vom Weltraum aus gesehen", schreibt Margulis.

Ihre radikalen Thesen werden sicher nicht nur Freunde finden. Der große Reiz dieses Buches ist, dass sie aus ungewöhnlichem Blickwinkel einige der großen Fragen der Biologie beleuchtet. "Die andere Evolution" zeigt, dass die für das Leben bedeutenden Anfänge eine drei Milliarden Jahre lange Entwicklung durchgemacht haben. Der Mensch ist nur ein Neuankömmling auf der Bühne der Evolution, der die Spielregeln des Lebens erst jetzt zu durchschauen beginnt.

Matthias Glaubrecht

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