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Gesundheit: Die Hypothese, ein Asteroid habe 1908 die sibirische Tunguska-Ebene verwüstet, bleibt umstritten

Es geschah in den Morgenstunden des 30. Juni 1908: Der Donner einer gewaltigen Explosion zerriss die Stille über den bewaldeten Ebenen nahe dem Fluss Tunguska in Sibirien.

Von Rainer Kayser, dpa

Es geschah in den Morgenstunden des 30. Juni 1908: Der Donner einer gewaltigen Explosion zerriss die Stille über den bewaldeten Ebenen nahe dem Fluss Tunguska in Sibirien. Sengende Flammensäulen, so berichteten Augenzeugen, standen am Himmel. Über Hunderte von Kilometern hinweg war der Donner zu hören, rund um den Erdball wurden seismische Erschütterungen registriert. In einem Gebiet von über 2000 Quadratkilometern wurden Bäume entwurzelt oder wie Streichhölzer umgeknickt.

Fast zwanzig Jahre vergingen, bis endlich eine Forschungsexpedition an den Ort der Katastrophe gelangte. Die Wissenschaftler waren überrascht: Entgegen ihren Erwartungen fanden sie keinen Einschlagkrater, keinerlei Trümmerstücke eines vom Himmel gestürzten Meteoriten. Doch für die Experten war trotz fehlender Überreste klar: ein kleiner Asteroid oder Komet, explodiert und vollständig verdampft in einigen Kilometern Höhe, war für die Katastrophe verantwortlich.

Der Tunguska-Forscher Andrej Olchowatow wartet nun mit einer anderen These auf: Weder Asteroid, noch Komet, sondern ein tektonisches Ereignis verursachte die Katastrophe. "Es war aber kein Erdbeben, sondern ein komplizierteres Phänomen" erläutert der in Moskau tätige Wissenschaftler.

Als Beispiel für derartige Erscheinungen führt Olchowatow die "Kanonen von Barisal" an, ein rätselhaftes, fernes Donnergrollen, das von der offenen See her zu kommen scheint und in Barisal, einer im Ganges-Delta in Bangladesch gelegenen Kleinstadt zu hören ist. Bislang konnte keine Erklärung für das Phänomen gefunden werden. Aber einige Forscher glauben, dass es durch irgendeine Form seismischer Aktivität ausgelöst wird.

Auch von anderen Orten auf der Welt her sind solche natürlichen Explosionsgeräusche oder "Brontiden" bekannt. Thomas Gold und Steven Soter von der Cornell Universität im US-Bundesstaat New York listeten 1971 im renommierten Wissenschaftsmagazin "Science" zahlreiche Fälle auf, wie etwa die "Mistpoeffers" an der belgischen Küste oder die "Kanonen" des Seneca-Sees in Nordamerika. Häufig treten die "Brontiden" im Zusammenhang mit seismischer Aktivität auf, mitunter unmittelbar vor Erdbeben - möglicherweise ein Hinweis auf den Ursprung des Phänomens.

Und auch Leuchterscheinungen treten oft gemeinsam mit Erdbeben auf. So berichtete im Dezember 1990 Marcel Ouellet von der Universität Quebec im Wissenschaftsmagazin "Nature" von Erdbebenlichtern, die während einer Serie seismischer Erschütterungen in der kanadischen Provinz beobachtet worden waren. Große Feuerbälle seien aus dem Erdboden aufgestiegen.

Andrej Olchowatow glaubt daran, dass es sich bei der gigantischen Explosion in der Tunguska um eine Kombination von Erdbebenlicht und seismischem Kanonendonner gehandelt hat - nur eben in sehr viel größerem Ausmaß. "Die Beobachtungen sind einfach nicht mit der Einschlaghypothese verträglich", meint der Forscher und verweist darauf, dass bereits in den Tagen vor der Explosion Leuchterscheinungen aufgetreten seien.

Auch die Augenzeugenberichte sind nach Olchowatows Ansicht schwerlich mit einem in die Atmosphäre eindringenden Himmelskörper in Einklang zu bringen: Da ist von zwei Flammensäulen die Rede. Und am Himmel gesichtete Feuerkugeln scheinen sich in ganz unterschiedliche Richtungen bewegt zu haben. Schließlich sei man am Ort des Ereignisses auf chemische Anomalien gestoßen, die sich auf Grund ihrer Zusammensetzung eher durch das Ausströmen von Erdgasen erklären lassen.

Doch so leicht lässt sich die Gemeinde der Tunguska-Forscher nicht zum Verzicht auf die lieb gewonnene Einschlagtheorie bewegen. Der amerikanische Experte Roy Gallant, Betreuer der "Tunguska-Hompage" im Internet, hält Olchowatows These für absurd: "Es ist völlig unmöglich, dass es sich um eine tektonische Störung gehandelt hat. Alle meine Kollegen in Russland und Amerika würden mir da zustimmen!"

"Das mag schon sein", meint Wolfgang Kundt, Professor am Astronomischen Institut der Universität Bonn, lachend. "Aber das liegt wohl eher daran, dass Olchowatows Überlegungen bislang noch nicht vielen Forschern bekannt sind." Kundt selbst war erst vor rund einem Jahr auf einen Artikel des Russen aufmerksam geworden. Heute gehört er zu der kleinen Schar der Forscher, die Olchowatows These unterstützen.

Doch während Olchowatow bislang unbekannte physikalische Prozesse hinter dem Phänomen vermutet, hat Wolfgang Kundt eine eher bodenständige Erklärung parat: unter Hochdruck ausströmendes Erdgas, welches sich durch Reibung selbst entzündet hat. Der Bonner Astrophysiker vermutet, dass es unterhalb des Explosionsherdes ein gewaltiges Gasreservoir - rund 10 Millionen Tonnen - gab, dass sich innerhalb von Sekunden entlud.

Tatsächlich fanden sich im Tunguska-Gebiet nicht ein, sondern gleich vier Epizentren von Explosionen - schwer zu erklären mit der Explosion eines Himmelskörpers in großer Höhe, aber leicht zu erklären durch das Ausströmen des Gases durch mehrere Kanäle. Und auch die Erdbebenlichter und die "Brontiden" lassen sich durch Gaseruptionen erklären. Denn eine plötzliche Ausdehnung des unter Hochdruck ausströmenden Erdgases würde gewaltige Druck- und Schallwellen erzeugen. "Es gibt eben immer noch Dinge auf unserem rätselhaften Planeten, deren Erforschung sich lohnt und die uns weitere Rätsel bescheren werden", meint Andrej Olchowatow.

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