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Gesundheit: Die Logik der Savanne

Wie trifft der Mensch Entscheidungen? Mit wenig Kalkül und viel Instinkt – wie unsere afrikanischen Vorfahren

Diese Geschichte handelt von uns selbst, von unserem Ich und dessen Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Ständig müssen wir entscheiden. Im Beruf, in der Liebe, an der Börse. Im Kleinen, wie jetzt, ob wir diesen Satz zu Ende lesen. Im Großen, vor der Wahlurne am 18. September. Doch wie tun wir das? Wie trifft der Mensch seine Entscheidungen?

Seit zwei Jahrzehnten knabbert Gerd Gigerenzer an dem Rätsel. Die Entdeckungen, die er und seine Kollegen dabei gemacht haben, lassen den Professor, sonst die Bescheidenheit in Person, Sätze formulieren wie: „Mir scheint, als stünden wir da vor einer kleinen Revolution.“

Gerd Gigerenzer ist Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Das Gebäude im Südwesten der Stadt wirkt wie eine Kreuzung aus asiatischem Tempel und Kernkraftwerk, eine verwinkelte Architektur aus den 70ern, expressionistisch. Hier wurde der Schülertest „Pisa“ mitkonzipiert, im zweiten Stock. Gleich darüber, im Dachgeschoss, arbeiten Gigerenzer und sein 30-köpfiges Team daran, das menschliche Denken neu zu definieren.

Dazu bedarf es erstaunlich wenig. Keine Kernspintomografen, keine Reagenzgläser, nur Testpersonen. Menschen, die sich in Experimenten entscheiden sollen, für irgendwas. Gigerenzer sitzt in seinem Büro, zupft an seinem grauen Schnurrbart. „Das wird jetzt etwas theoretisch“, sagt er, bayrischer Akzent, fast flüsternd, und fängt an zu erklären.

Jahrzehntelang dominierten Ökonomen und Mathematiker das Feld. Der Mensch, so ihre Theorie, entscheidet, indem er die Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Alternativen abwägt und das Angebot mit dem höchsten zu erwartenden Nutzen wählt. Als Faustregel gilt dabei: Je genauer wir über die Alternativen Bescheid wissen, je mehr Informationen wir über sie sammeln, desto besser fällt unsere Entscheidung grundsätzlich aus. Das leuchtet ein, und für die zahlreichen Ausarbeitungen dieses Ansatzes gab es zahlreiche Nobelpreise, 1994 etwa für den Mathematiker John Nash, dessen Leben kurz darauf mit Russell Crowe in dem Hollywood-Streifen „A Beautiful Mind“ verfilmt wurde.

Um der Theorie auf den Grund zu gehen, begab sich Gigerenzer in die Fußgängerzone seiner Heimatstadt München, legte den Passanten eine Liste mit deutschen und amerikanischen Aktienunternehmen vor und fragte sie, welche sie erkannten. Das Gleiche wiederholte er in Chicago. Anschließend tat der Forscher etwas Kühnes: Er investierte 50000 Euro nur in die Firmen, die fast alle Befragten erkannt hatten.

Ein halbes Jahr später verglich Gigerenzer sein Portfolio mit dem Dax, Dow Jones und diversen Fonds und stellte fest, dass sein Laienpaket nahezu alle Vergleichswerte geschlagen hatte. Das Urteil von der Straße erwies sich als wertvoller als die minutiösen Analysen hochinformierter Investmentbroker. „Eine gesunde Portion von Ignoranz kann am Aktienmarkt nützlich sein“, sagt Gigerenzer. Ein verschmitztes Lächeln legt sich auf seine Lippen: Weniger ist mehr – zu diesem Schluss wäre man weder intuitiv noch auf Grund der klassischen Theorie gekommen, im Gegenteil.

Vielleicht, fragte sich der Forscher, muss der Mensch gar nicht alle möglichen Daten abwägen, um zu einer brauchbaren Entscheidung zu kommen? Ja, könnte es nicht sein, dass wir ein Talent dafür entwickelt haben, Entscheidungen auf Grund minimaler Informationen zu treffen – zumal uns oft nichts anderes übrig bleibt?

„Willkommen in unserer Savanne“, sagt Gigerenzer und geht durch den Flur des Instituts. Sein Team expandiert. Doch statt einen Teil der Leute in einem anderen Gebäude unterzubringen, ließ Gigerenzer die Etage ausbauen, „ist letzte Woche fertig geworden“, sagt er. „Für den Erfolg einer interdisziplinären Gruppe ist es wichtig, dass alle auf einer Fläche vereint sind. Wenn die Forscher auf verschiedene Gebäude oder auch nur Stockwerke verteilt sind, verringert sich die Zusammenarbeit um gut die Hälfte. Kontakte entstehen bevorzugt horizontal – als ob wir noch in der Savanne leben würden.“

Die Savanne. Der klassischen Theorie zufolge gibt es einen Generalschlüssel, mit dem wir zu unseren Entscheidungen gelangen – Logik. Gigerenzer und seine Kollegen dagegen sagen: Unser Gehirn ist keine Logikmaschine, vielmehr gleicht es einem Werkzeugkasten mit zahlreichen, spezifischen Schlüsseln. Je nach Situation bedient sich der Verstand des passenden Werkzeugs. Als „Heuristiken“ bezeichnen die Wissenschaftler diese geistigen Werkzeuge, mit denen das Gehirn im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte ausgerüstet wurde. Einer Entwicklungsgeschichte, die sich lange Zeit in der afrikanischen Savanne abspielte.

Eine der Heuristiken aus der Steppe lautet: Nimm das, was du kennst. Iss die Früchte, die dir bekannt vorkommen. Vertraue demArtgenossen, den du schon mal gesehen hast. Erstaunlich ist, dass diese „Erkennungsheuristik“ nicht nur zu Urzeiten unser Überleben sicherte, sondern auch im Zeitalter von Shareholder-Value noch Gewinne abwirft, wie Gigerenzers Aktienexperiment zeigt.

Heuristiken machen uns handlungsfähig in Situationen, wo Zeit und Informationen knapp sind. Zum Beispiel auch die Heuristik: Folge der Menge. Was hatten unsere Vorfahren davon, sämtliche Informationen über alle Nahrungsalternativen um sich herum zu sammeln, wenn sie im Laufe der Investigationsarbeit Gefahr liefen zu verhungern? Der Australopithecus hingegen, der ungehemmt drauflos aß, wurde zwar satt, ging aber das Risiko ein, sich zu vergiften. Am erfolgreichsten dagegen war jener Vorfahre, der sich einer dritten Strategie bediente: Beobachte deine Artgenossen und iss, was sie essen.

Die Imitationsheuristik setzte sich durch, und wir nutzen sie noch heute: Wir bevorzugen Restaurants, die gut besucht sind, leere Lokale stimmen uns skeptisch. Wir greifen zu Harry Potter, weil der Name in aller Munde und es zu mühsam und zu riskant wäre, die 27000 anderen Neuerscheinungen auszuprobieren.

Ganz hinten in Gigerenzers Savanne befindet sich die Nische von Jörg Rieskamp. Rieskamp, ein junger Wissenschaftler, das Hemd dunkelbraun, Safarilook, blickt durch seine Brille auf einen Bildschirm. Neben seinem Schreibtisch rauscht ein Ventilator.

In einem seiner Versuche bittet Rieskamp die Teilnehmer, so zu tun, als würden sie eine Rente fürs Leben aufbauen. Dazu sollen sie einen bestimmten Betrag in Aktien- und Rentenfonds investieren. Auf dem Bildschirm leuchtet ein Kuchen auf, den man in vier Stücke verteilen kann. „Manchmal bietet der Computer zwei Aktien- und zwei Rentenfonds an, manchmal drei Aktienfonds und nur einen Rentenfonds.“ Nachdem man sein Geld per Maus angelegt hat, gibt es eine Rückmeldung darüber, wie hoch die Gewinne ausgefallen sind, dann geht’s in die nächste Runde, ins nächste „Jahr“. So geht das 35 Jahre lang. „Um den Reiz zu erhöhen, dürfen die Versuchspersonen am Ende einen Teil des Betrags tatsächlich behalten.“ Wie im richtigen Leben, werfen auch in Rieskamps Computersimulation die Aktienfonds langfristig mehr Gewinne ab als die Rentenfonds, sind aber kurzfristig risikoreicher. Vor seinem Versuch klopft der Forscher die Probanden mit Hilfe eines Tests auf ihre Risikofreudigkeit hin ab. Risikoreiche Menschen, so würde man erwarten, setzen lieber auf Aktien- statt auf Rentenfonds.

In Wirklichkeit beobachtet Rieskamp bei den Versuchsteilnehmern etwas anderes: Es ist vor allem das Angebot, dass ihre Wahl bestimmt. Bietet der Computer, gewissermaßen die Bank, verhältnismäßig viele Rentenfonds an, investieren selbst die Risikotypen eifrig in Rentenfonds. Auch das Feedback über die Gewinne scheint an dieser Strategie nichts zu ändern. „Es ist, als würden die Leute nach der Heuristik verfahren: Verteile deine Ressourcen gleichmäßig“, sagt Rieskamp.

Nach der klassischen Theorie hätten die Testpersonen die Alternativen nüchtern durchkalkuliert, von der Rückmeldung gelernt und nach einiger Zeit mehr in Aktien- als in Rentenfonds investiert. Offenbar aber wägen Menschen nicht sorgfältig ab, auch dann nicht, wenn es um Bares geht.

Rieskamps Versuch zeigt: Die Heuristiken, mit denen unser Hirn hantiert, führen nicht immer und nicht automatisch zur bestmöglichen Entscheidung. Vielleicht war die „Gleichverteilungsheuristik“ bei unseren Vorfahren in gewissen Situationen nützlich, etwa, wenn es um die Ressourcenverteilung an den Nachwuchs ging. Wenn wir aber mit unserem steinzeitlichen Werkzeugkasten im Kopf an eine Bank geraten, die viele Rentenfonds im Angebot hat, dann geht uns unter Umständen ein kleines Vermögen durch die Lappen.

Die Geistesschlüssel funktionieren immer nur in spezifischen Situationen – während sie in anderen scheitern. An der Stelle kommt die Logik ins Spiel: zur Prüfung, wann uns unsere Heuristiken ins Verderben führen.

So berechnete Gigerenzer anhand von Daten des US-Verkehrsministeriums die Zahl der Todesfälle, die nach dem 11. September 2001 in den USA zu Stande kamen, weil die Leute aus Angst vorm Fliegen aufs Auto umgestiegen waren. Das Resultat: Die Zahl der Opfer in den drei Monaten nach 9/11 überstieg die Zahl derjenigen, die in den Flugzeugen und New Yorker Türmen ums Leben gekommen waren.

„Wir haben besondere Angst vor möglichen katastrophalen Ereignissen, 9/11, BSE, Sars, Vogelgrippe“, sagt Gigerenzer. In einer Katastrophe sterben viele Menschen zu einem Zeitpunkt, während Ereignisse, in denen genauso viele oder mehr Menschen ums Leben kommen, jedoch über die Zeit verteilt, weniger Angst auslösen, wie Autounfälle, Asthma oder Lungenkrebs durch Rauchen. „Es ist denkbar, dass in der Frühgeschichte des Menschen der plötzliche Verlust einer größeren Anzahl das Überleben einer kleinen Gruppe besonders gefährdet hat und eine starke emotionale Tendenz zur Vermeidung solcher Situationen noch in uns angelegt ist.“

Ziehen uns Flugzeugkatastrophen deshalb so magisch an? Das Argument, das Auto sei objektiv gefährlicher, lässt sich zwar logisch begründen. „Aber von Logik lässt sich der Mensch bei seinen Entscheidungen nur in seltenen Fällen leiten.“ In dem Punkt war die Steppe ein schlechter Lehrer fürs spätere Leben – manchmal schadet es doch nicht, über die eine oder andere Entscheidung noch mal nachzudenken.

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