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Gesundheit: Die schmutzigen Hände

Zwangsneurotiker putzen stundenlang. Therapeuten versuchen, die Patienten an Dreck zu gewöhnen

Eigentlich könnte Ulrich Voderholzer zufrieden sein. Der Leiter der Arbeitsgruppe Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Freiburg hat festgestellt, dass die seelische Störung seiner Patienten heute besser akzeptiert wird denn je. Hollywoodfilme wie „Besser geht´s nicht“ mit Jack Nicholson und „The Aviator“ mit Leonardo DiCaprio haben das Krankheitsbild des Waschzwangs bekannt gemacht. Detektiv Monk aus der gleichnamigen Fernsehserie ist gar der Deutschen zweitliebster TV-Schnüffler. Seine Kontrollwut und Panikattacken sowie die ständigen Gedanken darüber, was alles schief laufen könnte, geben reichlich Stoff für bizarre Szenen.

Lange galten Zwangserkrankungen als weitgehend unbehandelbar, es gab nur wenige Therapeuten. Inzwischen zählen wir über 800 Spezialisten, sagte Antonia Peters, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (DZG), die kürzlich anlässlich des 10. Jahrestags an ihrem Ursprungsort Freiburg tagte.

Wartezeiten von über sechs Monaten seien die Regel, aber immerhin habe sich jetzt die kognitive Verhaltenstherapie als ein Verfahren etabliert, mit dem laut Voderholzer bei 60 bis 70 Prozent der Betroffenen ein „anhaltender Erfolg“ erzielt werden kann. Bestimmte antidepressiv wirkende Arzneien unterstützten das Umlernen der Zwangskranken und erhöhten so die Erfolgschancen der Methode, hieß es in Freiburg.

Bei der Verhaltenstherapie „mit Exposition“ werden die Patienten zu Hause von speziell geschulten Psychologen schrittweise mit jenen Reizen konfrontiert, die ihre Zwänge auslösen. So lernen sie, sich die Hände schmutzig zu machen und für mehrere Stunden nicht zu waschen. Oder der Psychologe schafft in der Wohnung des Patienten gezielt Unordnung – und steht dem Kranken bei, diese zu erdulden.

Betroffene erhalten mit diesem speziellen Training das Rüstzeug, um „vernünftig“ mit den Auslösern ihrer spezifischen Zwänge umzugehen. Und im Gegensatz zu rein medikamentöser Behandlung stehen die neu erlernten Fähigkeiten den Patienten für den Rest ihres Lebens zur Verfügung, was sie weniger anfällig für Rückfälle macht.

Umso ärgerlicher ist es für Fritz Hohagen, Psychiater am Universitätsklinikum Schleswig Holstein in Lübeck, dass viele Psychologen die mühsame Exposition in der Wohnung oder am Arbeitsplatz des Patienten scheuen. „Eine Psychoanalyse oder Gesprächstherapie mag beiden Seiten helfen, die Krankheit besser zu verstehen – überwinden kann man sie damit aber nicht“, sagte der Psychiater.

Einig waren sich die Experten, dass ohne Exposition kaum Hoffnung auf Besserung besteht und dass man die Kranken keinesfalls von ihren Angstauslösern abschirmen sollte. Auch wenn die Exposition zunächst große Überwindung koste, könne sie bei der Mehrzahl der Patienten im Rahmen von durchschnittlich 15 bis 20 Sitzungen zu einer „Neuverkabelung“ der Gehirns führen, erläuterte Hohagen.

Mit Hilfe neuer bildgebender Verfahren sei es gelungen, bei Betroffenen eine Überaktivität in bestimmten Hirnarealen nachzuweisen. Die bunten Bilder zeigen einen erhöhten Energieverbrauch gegenüber Gesunden in Teilen des Stirnhirns, in denen Handlungen geplant und das Sozialverhalten gesteuert wird, aber auch in den Basalganglien, die als Informationsfilter arbeiten, sowie im limbischen System, das die Emotionen reguliert.

In mehr als zehn Therapiestudien hätten Neurowissenschaftler gezeigt, dass sich der gestörte Stoffwechsel im Gehirn nach einer erfolgreichen Behandlung wieder den Normalwerten annähert, sagte Voderholzer.

Als letzten Ausweg erproben Mediziner derzeit die Tiefhirnstimulation, ein Verfahren, bei dem nach Operation mit einer implantierten Elektrode bestimmte Hirnregionen ständig mit Strom gereizt werden. Volker Sturm, Neruochirurg an an der Universität zu Köln, hat die Methode als Erster in Deutschland bei neun Patienten mit extremen Zwangsstörungen erprobt.

Bei sechs von ihnen habe er „gute bis exzellente“ Erfolge vorzuweisen, zwei seien mäßig gebessert, und lediglich einer der neun habe nicht von dem Verfahren profitiert. Hier hatte sich die Elektrode verschoben, die normalerweise auf den Millimeter genau platziert werden muss. Trotz dieser Resultate wird die Tiefhirnstimulation wegen des enormen Aufwandes, hoher Kosten und des Risikos wohl nur für die schlimmsten Fälle in Frage kommen, sagte Sturm.

Michael Simm

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