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Gesundheit: Die Wissenslücken der älteren Schüler füllen

Der Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm sieht Schulabsolventen mit Defiziten ins Berufsleben gehen

Die Pisa-Studie hat den deutschen Schulen schlechte Leistungen und soziale Ungerechtigkeit bescheinigt. Welche Chancen sehen Sie, dass sich das bald verbessern lässt?

Die Reaktionen der letzten Monate zeigen, dass die Politik das Desaster diesmal ernster nimmt als noch bei der Vorgängeruntersuchung Timss. Die bisher angekündigten Maßnahmen sind allesamt vernünftig: künftig schon im Kindergarten mit dem Lernen und Fördern anzufangen und für später Standards festzulegen, deren Erreichen überprüft wird. Und mehr Sprachförderung anzubieten – das ist sicher sinnvoll.

Ist das ein vernünftiges Gesamtpaket?

Alle Beteiligten rühren bisher nicht an zwei wesentlichen Tabus: dass die Bildungshaushalte nicht deutlich angehoben werden und dass die deutsche Schulstruktur mit Gymnasien, Haupt- und Realschulen nicht in Frage gestellt wird. Diese Bereiche auszusparen, ist ein schweres Manko.

Wie lange wird es dauern, bis die Änderungen Wirkung zeigen?

Wer auf schnelle Erfolge setzt, täuscht sich. Zehn Jahre oder eine Schülergeneration ist etwa der Zeitrahmen, mit dem man rechnen muss, bis sich Veränderungen auswirken.

Was soll dann mit der jetzigen Schülergeneration geschehen? Sie hat von einer besseren Schulsituation in zehn Jahren jetzt gar nichts.

Diese Frage wurde bisher völlig vernachlässigt. Die heutigen Acht-, Neunt- und Zehntklässler profitieren tatsächlich von Verbesserungen, wenn sie denn tatsächlich durchgesetzt werden sollten, nicht. Sie verlassen die Schulen mit wesentlichen Defiziten, die ihnen das Erlernen eines Berufs erschweren. Diese Jugendlichen darf man natürlich nicht abschreiben, sondern bei ihnen muss man bei den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen nacharbeiten. Die Berufsschulen sollten das intensiv angehen. 20 Prozent Ausbildungsabbrecher deuten ja auch darauf, dass die schulische Vorbereitung nicht gut ist. Vielleicht muss man in den Abschlussklassen neun und zehn zusätzliche Förderung schaffen.

Trotz der bewegten Diskussion über die Pisa-Ergebnisse wissen wir wenig über die Ursachen. Was kann man darüber sagen?

In der Studie kommen die Autoren zu dem Schluss, „dass primär bereichsübergreifende ökonomische, soziale, kulturelle, aber auch institutionelle Bedingungen für Leistungsunterschiede zwischen den Ländern verantwortlich sein dürften“. Mit anderen Worten: Ob ein Bundesland arm oder reich ist, beeinflusst wesentlich den Schulerfolg – aber auch das Schulsystem bleibt nicht ohne Einfluss. Eine hohe öffentliche Verschuldung ist beispielsweise ein starker Prädikator für schwache Pisa-Ergebnisse. Öffentlicher und privater Wohlstand sind Ursachen für Leistungsunterschiede. In einer wirtschaftlich schwachen Region mit hoher Arbeitslosigkeit kann Schule kaum allein für die Motivation der Schüler sorgen.

Dann ist es ja egal, was die Schulen leisten.

Das entbindet die Schulen nicht von der Verantwortung, besser zu werden. Sie sind in den Ländern mit viel Armut und vielen ausländischen Kindern aber stärker gefordert. Doch kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede kann man eben nicht durch die Schulpolitik beeinflussen. Ein Beispiel für die Bedeutung institutioneller Bedingungen ist für mich die Tatsache, dass Bayern seine guten Ergebnisse mit einem Teil-Gesamtschulsystem erzielt hat. 75 Prozent der Schüler dort lernen sechs Jahre lang gemeinsam an einer Schule, nur die Gymnasiasten werden vorher getrennt. Das ist jetzt gerade geändert worden, aber für die untersuchten 15-Jährigen gilt es.

Welche Ursachen sehen Sie für das schwache Abschneiden SPD-regierter Bundesländer? Gibt es da Anlass zu spezieller Kritik?

So stimmt das ja nicht. An den Gymnasien zum Beispiel finden sich in allen Testbereichen – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – sowohl SPD- wie unionsregierte Länder in der Spitzengruppe. Im Vergleich der Gymnasien rangieren auch Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen vorn, nicht nur Bayern. Bei den Negativergebnissen für die SPD-Länder spielt auch eine Rolle, dass sie mehr in ärmeren als in reichen Ländern an der Regierung ist. Bei den Chancen der Kinder, auf das Gymnasium zu kommen, schneidet sie aber nicht schlecht ab.

Dann sehen Sie also gar keine Kritikpunkte an der sozialdemokratischen Bildungspolitik?

Wenn mehr Kinder zum Gymnasium gehen, erhöht das den Problemdruck auf die Hauptschulen – ein Nachteil von immer mehr Aufteilung. Auch die halbherzige Einführung der Gesamtschulen hat offensichtlich neue Probleme geschaffen. Sie werden ja weiterhin nur da eingeführt, wo die Eltern sie durchsetzen. Das führt besonders in den weiter bestehenden Hauptschulen zu einer „Problemverdichtung“. Länder wie Schweden, die neben den Gesamtschulen keine weiteren Schulformen kennen, haben solche Probleme nicht. Auch wirkt sich die wirtschaftliche Situation direkt auf den Schulunterricht aus: Die ärmeren, SPD-regierten Länder bieten auch viel weniger Unterrichtsstunden an als CDU-geführte und wohlhabendere. Pisa hat gezeigt, dass sich das negativ auf das Lernergebnis auswirkt.

Was halten Sie von mehr Bundeskompetenz für die Schulen?

Keines der 16 Bundesländer ist ernsthaft bereit, Kulturzuständigkeiten an den Bund abzugeben. Deshalb verspreche ich mir von dieser Debatte wenig. Ein Fortschritt ist, dass die Kultusministerkonferenz der Länder jetzt in der Pflicht ist, sich mehr anzustrengen. Die bisherige Politik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner reicht nicht mehr.

Bisher stellt sich kein Land der zentralen Herausforderung, künftig mehr Absolventen zu höheren Abschlüssen zu führen und gleichzeitig alle besser auszubilden. Wie kann man das erreichen?

Dafür kommt man wahrscheinlich nicht um die Strukturfrage herum. Das traditionelle gegliederte Schulsystem ist mit dieser Herausforderung offensichtlich überfordert. Das haben die detaillierten Schuluntersuchungen in Hamburg noch einmal gezeigt. Dabei war der Lernzuwachs am Gymnasium in den Klassen sieben bis neun sogar geringer als an Real- und Hauptschulen. Die Gymnasiasten bleiben wegen der Vorauswahl trotzdem besser. Aber was wird da verschenkt? Die Lehrer sagen selbst: „Wir unterrichten durch die Mitte. Das funktioniert nicht.“ Wir brauchen ein Schulsystem, das jedes Kind individuell fördert. Andere Länder schaffen das auch. Allerdings geht das nicht ohne mehr Geld, auch wenn das nicht alles ist.

Das Gespräch führte Bärbel Schubert.

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