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Gesundheit: Die Zukunft der Vergangenheit

Ein engagierter Aufklärer: Jürgen Kocka zum Tod seines Lehrers, des großen Bielefelder Historikers Reinhart Koselleck

In der Geschichtswissenschaft folgen die jeweils neuen Strömungen rasch aufeinander. Nach dem Wiederaufbau der Politikgeschichte und der Begründung der Zeitgeschichte in den 1950er Jahren kam der Durchbruch der Sozialgeschichte, die Betonung der Strukturgeschichte und die analytisch-theoretische Wende der 60er und 70er Jahre. Diese wurden dann in den 80er/90er Jahren von der Alltagsgeschichte und dem Aufstieg der Kulturgeschichte mit ihrem Interesse an Sprache, Diskurs und Symbolik – und von Erinnerungsgeschichte – abgelöst.

Jetzt stehen Global- und Verflechtungsgeschichte, die Überschreitung der Grenzen, der Kulturtransfer und Postkoloniales hoch im Kurs. Unterhalb der bewegten Oberfläche hält sich zwar viel Kontinuität: Einsichten, Methoden, langfristige Forschungsprojekte. Die Geschichte wird nicht immer neu geschrieben. Doch was an ihr besonders interessiert, wandelt sich schnell. Entsprechend rasch veralten Fragestellungen, Lieblingsthemen und -bücher, die Verteilung des Ruhms und der Kampf der Schulen.

Reinhart Koselleck, der am letzten Freitag 82-jährig starb, hatte an diesen Entwicklungen teil. Er war als Historiker immer auch Zeitgenosse. Was er lehrte und schrieb, hing eng mit den Erfahrungen zusammen, die er mit den Mitteln des Historikers und der Kraft des Intellektuellen verarbeitete. Zugleich ist auffällig, wie sein Werk quer zu diesen Phasen und Moden des Faches stand, wie wenig es über die Jahrzehnte gealtert ist. Seine internationale Resonanz wächst noch an.

Es ist das höchst originelle Werk eines philosophisch gebildeten Historikers, der neben grundlegenden empirischen Forschungen die Umrisse einer eigenen Theorie der Geschichte hervorgebracht und gleichzeitig das vielleicht eindrucksvollste Großunternehmen der deutschen Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte gestaltet hat, nämlich die monumentale Enzyklopädie „Geschichtliche Grundbegriffe“, ein Lexikon der politisch-sozialen Sprache Deutschlands.

Lange Außenseiter der Zunft, wurde Koselleck schließlich zu einem ihrer Klassiker. Er gehört zu einer sehr kleinen Gruppe deutscher Spitzenhistoriker des 20. Jahrhunderts, die weltweit bekannt waren und Einfluss ausübten, auch weit über die Geschichtswissenschaft hinaus.

Es war die Erfahrung von Krieg, Ostfront, Verwundung, Vertreibung und russischer Kriegsgefangenschaft, die den 1923 in Görlitz geborenen Sohn einer bildungsbürgerlichen Familie zwischen 1941 und 1946 tief prägte und immer wieder zu historisch-moralischen Reflexionen Anlass gab.

Seit 1947 studiert Koselleck in Heidelberg (und Bristol) Geschichte, Philosophie, Soziologie und Politik, bei Johannes Kühn, Alfred Weber, Forsthoff, Loewith und Gadamer. Regelmäßige besuchte er Carl Schmitt zu Gesprächen und Diskussionen, der ihn – wie Heideggers „Sein und Zeit“ – beeinflusste.

Die Dissertation von 1954, die 1959 als „Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der modernen Welt“ erschien und mittlerweile in vielen Auflagen und Sprachen vorliegt, war eine scharfsinnige Analyse der europäischen Aufklärung und ihrer politischen Grenzen: zum Verhältnis von Absolutismus, bürgerlicher Kritik und deren utopischer Rechtfertigung, die in den Terror der Tugend in der Französischen Revolution mündete. Anerkennung der Aufklärung als eigener Tradition mischte sich mit Aufklärungsskepsis. Hier bildete sich Kosellecks später berühmt werdende Vorstellung von der „Sattelzeit“ 1750–1850: eine Phase der historischen Beschleunigung und der tiefen Umbrüche, in der die Moderne und ihre Sprache entstanden.

„1968“ – die sozialen und intellektuellen Herausforderungen der 60er und 70er Jahre – haben manchen vorher linken Geistes- und Sozialwissenschaftler vorsichtig gemacht und nach rechts orientiert. Bei Koselleck war das anders. Obwohl nicht als Linksintellektueller profiliert, hielt er zu den protestierenden Assistenten und Studenten in Heidelberg.

Unter dem Einfluss Werner Conzes wandte er sich der Sozial- und Strukturgeschichte zu. Es entstand „Preußen zwischen Reform und Revolution“, das Grundlagenwerk von 1967, das die große Leistung preußischer Reformbürokratie um 1800 behandelt, aber auch ihr partielles Scheitern, das soziale Protestbewegungen entstehen ließ und in der Revolution von 1848 mündete. Das Buch gilt als Meisterstück analytischer Gesellschaftsgeschichte, stark vom Staat her gedacht und theoretisch durchdrungen.

Nach Professuren in Bochum (Politik) und Heidelberg (Geschichte) wechselte Koselleck 1974 auf den Lehrstuhl für Theorie und Didaktik der Geschichte an der neuen Universität Bielefeld, deren Konzeption er als Mitglied des Gründungssenats mitbestimmt hatte und deren bald berühmt werdende Geschichtsfakultät er bis zu seiner Emeritierung von 1988 – Koselleck sprach von „Zwangsvergreisung“ – kräftig mitgeprägt hat.

Die von ihm konzipierten und als Hauptherausgeber verantworteten „Geschichtlichen Grundbegriffe“ erschienen in acht dicken Bänden 1972–1998, in denen die Zentralbegriffe der modernen politisch-sozialen Sprache wie „Gesellschaft“, „Nation“, „Arbeiter“, „Zeit“ oder „Fortschritt“ im sprachlichen Wandel in den letzten Jahrhunderten verfolgt, aber auch auf ihre nicht-sprachlichen Bedingungen und Folgen hin befragt wurden.

Das Werk erbrachte eine einzigartige Symbiose von Sprach- und Struktur-, von Begriffs- und Sozialgeschichte: ein wissenschaftliches Ereignis, zu dem es in anderen Sprachen keine Parallele gibt. Vor allem hat Koselleck die 70er und 80er Jahre genutzt, um bahnbrechende Artikel zur Theorie der Geschichte zu schreiben. Man findet sie in den Aufsatzbänden „Vergangene Zukunft“ (1979) und „Zeitschichten“ (2000). Früh hat Koselleck über die Geschichte der Erinnerung gearbeitet, etwa über „Terror und Traum. Zeiterfahrungen im Dritten Reich“. Früh hat er sich für Kriegerdenkmäler interessiert, sie systematisch bereist, fotografiert und vergleichend bearbeitet. Er hat zur Geschichte des Totenkults, der politischen Ikonologie und der Bildersprache veröffentlicht.

So griff er in den 90er Jahren in Debatten über öffentliche Denkmäler ein. Er wandte sich scharf gegen die vergrößerte Kollwitz-Skulptur in der Neuen Wache, etwa weil sie die Todeserfahrung im modernen Krieg verfälsche. Er nahm erfolglos gegen die Separierung der Opfer des NS-Terrors Stellung, wie sie im Berliner Holocaust-Denkmal – mit seiner Beschränkung auf die jüdischen Opfer – vollzogen wurde.

Koselleck wurde zu Gastprofessuren und Vorlesungen in viele Länder eingeladen, nach Frankreich, USA oder Israel. Er gehörte zu den ganz wenigen Fellows des Berliner Wissenschaftskollegs, die zwei Jahre lang bleiben durften. Er erhielt viele hochbegehrte Preise, gehörte wissenschaftlichen Gesellschaften an.

Lange schätzten ihn die Vertreter anderer Disziplinen mehr als der harte Kern der Historikerzunft, dem er oft zu theoretisch, abgehoben und metaphorisch argumentierte. Koselleck behielt seine Unabhängigkeit, seine erquickliche Distanz zu jeder Art von Hofgeschichtsschreibung, seinen Habitus der Distanz, des Zweifelns und der Bescheidenheit – fast immer mit Pfeife, selten mit Krawatte.

Er war Bildungsbürger und Gelehrter, aber an Zügen des Bohemien fehlte es nicht. Er hat Schüler begeistert und geprägt. Er liebte Unterhaltung, Diskussion, Streit, auch Polemik, aber wurde niemals verletzend. Seine Bibliothek war so groß, dass sie im zweckentfremdeten Schwimmbad des Hauses untergebracht werden musste, das er mit seiner zeitweise sehr großen Familie in Bielefeld bewohnte. Reinhart Koselleck war ein großzügiger Mann, ein bedeutender Gelehrter, ein großer Historiker. Man wird viele Bücher über ihn schreiben.

Jürgen Kocka ist Historiker an der FU Berlin und Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

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