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Ehrenamtliche Demenzhelfer: Brücke in die Welt

Viel mehr Menschen als früher werden älter und dement. Das Diakonie-Projekt „Haltestelle“ hilft. Ehrenamtliche lassen sich ausbilden, um Betroffene zu begleiten – und so auch die Angehörigen zu entlasten.

„Stop. Ich lasse niemand in meine Wohnung“ steht auf der Innenseite der Eingangstür. Birgit Hohensee (Name geändert) hat an diesem Morgen trotzdem aufgemacht, für Margot Schwab (Name geändert) und Felizitas Knitsch. Beide sind angemeldet und überpünktlich: Birgit Hohensee ist zeitplanfixiert und versteht bei einer Verspätung keinen Spaß. Im Apartment – Bücherregal, Familienfotos, ein stumm flimmernder Fernseher – führt die 84-Jährige ihre Besucher stolz zum Balkon, wo sie mit extragroßen Dominosteinen auf dem Tischchen eine sonnige Open-Air-Partie vorbereitet hat. Aber Margot Schwab schlägt der alten Dame, die viele Jahre ein mathematisches Zentrum geleitet hat, also gewohnt war, selbst Chefin zu sein, erst mal einen Spaziergang vor. An den Rand der Friedrichshainer Wohnblöcke, ins Grün hinter der Brücke.

Kennengelernt haben sich Birgit Hohensee und Margot Schwab durch das vor zehn Jahren erfundene Diakonie-Projekt „Haltestelle“. Ausgangsproblematik war: Viel mehr Menschen als früher werden älter, dement oder psychisch krank, bewältigen allein oder mit der Hilfe überforderter Angehöriger den häuslichen Alltag gerade so, dass die Anerkennung für Pflegestufe 1 noch verweigert wird, möchten aber nicht ins Heim. Felizitas Knitsch ist „Haltestelle“-Koordinatorin für Friedrichshain, eine von 22 in Berlin. Aufgewachsen im klassischen Mehrgenerationen-Modell samt Oma auf einem Bauernhof, hat sie als Soziologiestudentin gelernt, welche Probleme mit dem Altern und der Einsamkeit in westlichen Gesellschaften zu meistern sind. Sie hat eine Zeit lang in Neuseeland gelebt, wo Begegnungen mit den Maoris sie beeindruckten: deren Sinn fürs „Ganzheitliche“, ihre Familienbindung. Wieder in Berlin, bewarb sie sich 2012 für „Haltestelle“.

Felizitas Knitsch.
Felizitas Knitsch.

© Haltestelle Diakonie

Nun betreut sie Gruppentreffen für Patienten, die noch relativ mobil sind, vor allem organisiert sie für elf von ihnen einen regelmäßigen Besuchsdienst. Sie wirbt über Öffentlichkeitsarbeit, etwa durch Annoncen in Anzeigenblättern, Ehrenamtliche an, die sie schult, berät und im Urlaubsfall vertritt. Unter den zwölf Freiwilligen, zwischen 23 und 72 Jahre alt, sind ehemalige Ingenieure, Sozialarbeiter und Altenpfleger. Ziel der Einsätze ist es, das Wohlbefinden der Kranken im Alltag zu steigern und Angehörige, die oft angesichts häuslicher Risiko-Szenarien gar nicht mehr abschalten können, zu entlasten: Wenn eine alte Frau einfach vergisst, dass sie nicht mehr richtig laufen kann und dauernd zu stürzen droht, stehen alle Anteilnehmenden unter Dauerstress.

Margot Schwab war im Berufsleben Altenpflegerin und ihrer Arbeit zuletzt körperlich nicht mehr gewachsen. „Zu Hause sitzen ist aber nicht mein Ding“, sagt die 60-Jährige, eine kesse Erscheinung mit grauer Glitzerkappe und grünen Fingernägeln. Seit einem Jahr ist sie dabei, sieben Stunden die Woche: „Ich könnte auch 20 investieren!“ Sie begleitet Birgit Hohensee bei Einkäufen und Arztbesuchen, und sie kennt den schmalen Grat zwischen notwendiger Empathie und zu starker Verwicklung. Noch gut erinnert sie sich an einen Abschied, der ihr besonders naheging: als eine „ganz liebe“ Greisin, die sich immer „halb tot gefreut hatte“, erst ins Krankenhaus kam, dann in die Kurzzeitpflege, schließlich ins Heim. Nun ist Birgit Hohensee ihre aktuelle alte Dame. Margot Schwab korrigiert bei ihr keine falschen Aussagen, „ich gehe auf ihre Gefühle ein, erkläre sie für gültig“. Beim Domino darf die Mathematikerin meist gewinnen. Die Betreuerin kennt eigene Begrenzungen: „Ich könnte keine Sterbebegleitung machen. Wenn ich auf einen Friedhof komme, fang ich an zu zittern.“ Mit der Alpha-Persönlichkeit Hohensee hat sie sich gut eingespielt. „Die passt auf mich auf! Wenn wir spazieren gehen, schaut sie für mich nach rechts und links.“ So sind die Rollen verteilt; diese Seniorin sieht sich nicht als Kranke, sie zeigt der Betreuerin ihre Gegend! Andererseits hat sie aber schon vergessen, was überhaupt ein Apfel ist und was man damit machen könnte, wenn sie einen sieht.

Wenn die Realitäten des alltäglichen Funktionierens entgleiten

„Haltestelle“ ist ein Versuch, neue niedrigschwellige Wege des Zusammenlebens der Generationen und der Fürsorge zu entwickeln, eine lebendige Brücke in die Welt anzubieten: für jene, denen der Alltag mit den Realitäten des Funktionierens entgleitet. Felizitas Knitsch erlebt, dass davon „wir alle profitieren“. Sie organisiert auch den erforderlichen Verwaltungskram; ihre Ehrenamtlichen sind über den Senat unfall- und über die Diakonie haftpflichtversichert. Für den Einsatz wird ein „Leistungsentgelt“ erhoben, aus dem den Engagierten eine kleine Aufwandsentschädigung zukommt; die Pflegekasse wiederum erstattet für jene, die nach § 45a SGB XI „einen erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung“ haben, bis zu 200 Euro im Monat. Knitsch steht als Supervisorin bereit. Zu den Tipps, die sie ihrem Team gibt, gehören Tricks, wie aus dem Langzeitgedächtnis Erinnerungen und Emotionen verwehter Jugendzeiten mobilisiert werden können – zum Beispiel mit Bildbänden, die Musik, Mode und Automodelle der 50er und 60er Jahre Revue passieren lassen.

Als die Koordinatorin ihre Ehrenamtliche Margot Schwab an diesem Morgen begleitet und bei der Patientin Hohensee mal so anfragt, wie es denn klappt mit dieser Betreuerin, kommt ein breites, glückliches Lächeln zurück, ein Statement mit offiziöser, ungelenker Wortwahl: „Es gab keine negativen Berührungen, wir haben positiv miteinander gesprochen.“ Margot Schwab reagiert gerührt, später kommentiert sie ins Off: „Ist das nicht niedlich? Ist das nicht schön? Das ist es, was einen motiviert.“

Infos: www.haltestelle-diakonie.de. Am 22. Juni um 11 Uhr feiert das Projekt „Haltestelle“ in der Zwinglikirche zehnjähriges Bestehen.

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