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Gesundheit: Ein bürgerliches Spitzengefühl

Die Liebe als historischer Forschungsgegenstand erscheint vielleicht ungewöhnlich. Gefühle gelten meist als unberechenbar und unfassbar.

Die Liebe als historischer Forschungsgegenstand erscheint vielleicht ungewöhnlich. Gefühle gelten meist als unberechenbar und unfassbar. Liebe bedeutet allerdings nicht zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften das Gleiche. "Emotionen sind weder anthropologische Konstanten noch individuelle Bewusstseinszustände. Sie sind immer kulturell erklärbar und historisch wandelbar", erklärt Anne-Charlott Trepp vom Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen den Forschungsansatz einer Studie über die Liebe zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters.

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gelangte die Liebe an die Spitze der bürgerlichen Emotions- und Werteskala. Sie wurde als eine Art religiöser Sinnstiftung und als ein Mittel zur Selbstfindung verstanden. Wahres Menschsein, Welterkenntnis und eigens erfahrene Religiösität waren Werte, die der Liebe zugeordnet wurden. An der Schwelle zum bürgerlichen Zeitalter war die Liebe entscheidend für die Erkundungen und Vergewisserungen einer sich auf Standeszugehörigkeit gründenden Vernunftehe. Die Liebesehe und der Glücksanspruch des Einzelnen wurden immer mehr zur gesellschaftlichen Norm. "Die Liebe wurde jedoch nicht als passives, diffuses Fühlen, sondern als aktives Erkennen verstanden", meint die Göttinger Forscherin.

Im Streben nach der Einheit mit etwas Höherem, die Grenzen des eigenen Ichs überschreitend, trafen Liebe und Religion aufeinander, so dass die Liebe im protestantisch geprägten Bürgertum in gewisser Weise eine Aura des Heiligen erhielt. Diese religiöse Überhöhung sei, so Anne-Charlott Trepp, nicht als eine Reaktion auf den damaligen allgemeinen Säkularisierungprozess zu verstehen, sondern als Ausdruck eines sich verändernden religiösen Bewusstseins. Unser heutiges Liebesverständnis sei im Wesentlichen ein Produkt dieser bürgerlichen Vorstellungen. Am Ende des 20. Jahrhunderts seien es die Liebe und die Arbeit, die zu einer Ersatzreligion erhoben worden seien, um die metaphysische Ungewissheit des Lebens erträglicher zu machen.

Bettina Gutierrez

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