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Leonard Hillmann.

© Kai-Uwe Heinrich

Ein Famulant berichtet: Alles dreht sich um den Menschen

Leonard Hillmann (22) studiert im siebten Semester Humanmedizin in Berlin. Als Famulant in einer Wilmersdorfer Klinik macht er täglich neue Erfahrungen, von denen er hier berichtet.

Ich habe mich für das Medizinstudium entschieden, um Menschen ärztlich helfen zu können. Und weil kein Mediziner vom Himmel fällt, ist es sinnvoll, sich grundlegende Fingerfertigkeit durch frühe Praxiserfahrung anzueignen. Möglichkeiten hierfür gibt es viele, da zum Studium an der Charité so genannte Famulaturen gehören – medizinische Praktika in den Semesterferien, in denen man als Student klinische Erfahrungen sammelt und den Arbeitsalltag kennenlernt: Man spricht mit Patienten, untersucht sie, nimmt ihnen Blut ab, legt Infusionszugänge – und ist förmlich immer für sie da, wenn sie einen brauchen. Kurz: Man hilft.

Das kommt allen Kranken zugute, ganz besonders jenen, die akut geschwächt sind, etwa nach einem Herzinfarkt, mit einer Lungenentzündung oder Nierenversagen. Um solche Patienten gezielt betreuen zu können, habe ich mir eine Famulatur auf der internistisch-kardiologischen Station des St. Gertrauden-Krankenhauses in Wilmersdorf ausgesucht und dort in einem Monat allerhand erlebt.

An meinem ersten Tag betrete ich den Fahrstuhl im Krankenhaus zugegebenermaßen mit einem mulmigen Gefühl: Ich erinnere mich daran, welch teils sehr rauer Ton in meinen vorhergegangenen Klinik-Einsätzen in anderen Häusern herrschte. Da grüßten sich Ärzte noch nicht mal untereinander oder nur gezwungenermaßen aufgrund ihres jeweiligen Ranges in der hausinternen Nahrungskette, auch „danke“ oder „bitte“ waren Fremdworte. Durch diese Art der Kommunikation fiel der erhoffte Zuwachs an Fachwissen für uns Studenten mau aus. Gelernt hatte ich damals vor allem: Jeder, der im Krankenhaus arbeitet, verdient es, gegrüßt und als Teil eines Ganzen angesehen zu werden.

Das meiste lerne ich von Studenten im Praktischen Jahr, aber auch Fachärzten darf ich schon zuschauen

Aber mit dem Öffnen der Aufzugstüren will ich nicht mehr daran denken. Zwei Krankenschwestern grüßen freundlich. Ärzte stellen sich gleich mit Vornamen vor, wollen wissen, wie es mir geht, bieten an, bei Fragen jederzeit auf sie zukommen zu können. Ich bin positiv überrascht – es geht also doch anders. In den folgenden Wochen lerne ich die beiden langen Korridore der Station immer besser kennen, auch andere Studenten, Ärzte, das Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter und Reinigungsfachkräfte. Was mir besonders auffällt: Die Hierarchie scheint hier nicht die rigide Struktur zu sein, die ich bis dahin kannte. Rangkettenkonform lerne ich zwar das meiste im Umgang mit Nadeln, Blut und EKGs von dem begabten Studenten im Praktischen Jahr und dem engagierten Assistenzarzt aus Nürnberg, der selbst erst einige Monate hier arbeitet. Aber zugleich darf ich auch der schon fertigen Fachärztin beim Defibrillatorenwechsel zuschauen, dem Oberarzt bei der Pleurapunktion oder dem Chefarzt bei der Liquorentnahme assistieren.

Die klinische Rangordnung wirkt hier wie ein System, das mehr auf einem Lernen voneinander als einem Ausspielen der persönlichen Stellung fußt – was in meinen Augen für ein viel angenehmeres Arbeitsklima sorgt. Davon profitieren auch Patienten merklich, denn ein gutes Team kommt besser mit komplizierten Stresssituationen zurecht. Etwa, als ein vermeintlicher Ebola-Patient in die Rettungsstelle eingefahren wird, obwohl im Fall der Fälle gar keine spezielle Isolierstation vorhanden wäre. Glücklicherweise bestätigt sich der Verdacht nicht.

Eine ältere Dame nimmt keine Tabletten mehr. "Ich will sterben", sagt sie

Leonard Hillmann.
Leonard Hillmann.

© Kai-Uwe Heinrich

Doch leider geht im Krankenhaus nicht jeder Fall positiv aus, und schon gar nicht, wenn fortgeschrittene schwere Grundleiden vorliegen. Dann fällt kein Gespräch leicht, so auch nicht in einem Palliativzimmer mit zwei älteren Damen, von denen die eine mit einem aggressiven Krebsleiden, die andere mit einer drastischen Lungenentzündung bei diversen Vorerkrankungen auf Station aufgenommen ist. Die erste ist sich ihrer schlechten Prognose komplett bewusst, bleibt aber freundlich, in sich ruhend und wirkt immer noch lebensfroh. Und gerade weil sie die Gesamtsituation so bewundernswert positiv auffasst, stimmen mich die Gespräche mit ihr besonders traurig. Ihre Zimmernachbarin kann nichts mehr aufmuntern – bei ihrem gegenwärtigen Zustand komplett verständlich. Es kommt der Zeitpunkt, ab dem sie keine Tabletten mehr einnimmt. Auf die Frage „warum?“ hebt sie erstmals seit Tagen den Kopf, öffnet die Augen und entgegnet, indem sie zu jedem Atemzug am Sauerstoffschlauch nur jeweils eine Silbe hauchen kann: „Weil ich sterben will.“

Was soll man darauf antworten? In all dem Klinikstress mit ständigem Zeitdruck, wenig Pausen und einem Haufen Formalitäten scheint die Zeit kurz still zu stehen. Erneut kann ich beobachten, dass es hier nicht um akademische Streitfragen, fachliches Konkurrenzdenken oder Kostenabrechnungen geht – in erster Linie dreht sich, wie es auch sein soll, alles um den individuellen Menschen mit seinen persönlichen Wünschen und Entscheidungen. Daher muss auch solch ein Entschluss respektiert werden – obwohl man ihn im Krankenhaus ja gerade vermeiden will. Die Aussage der Patientin, das Gespräch mit den beiden Frauen, die Gesamtsituation gehen mir nahe. Daher bin ich auch dankbar, dass der junge Assistenzarzt in einer ruhigen Minute auf mich zukommt und wir über all das sprechen, zumal Famulanten keinen offiziellen Ansprechpartner für solche ganz menschlichen Fragen haben.

Da wir als Medizinstudenten das Rüstzeug erwerben, Krankheiten vor allem kurativ zu begegnen, neigen wir oft dazu, die wenigen Misserfolge stärker emotional zu gewichten. Das liegt auch daran, dass wir viele Patienten nach erfolgreicher Therapie schlichtweg nicht mehr wiedersehen, weil es ihnen besser geht oder sie im Idealfall sogar geheilt sind. Und glücklicherweise kann den meisten auch adäquat geholfen werden: Wie zum Beispiel der Urenkelin von Rudolf Virchow, der ich Blut abgenommen habe, oder einer anderen Dame, die rechtzeitig entlassen werden kann, um ihren 101. Geburtstag nicht auf Station verbringen zu müssen.

Auch wenn wir ab und zu traurige Gespräche in Palliativzimmern führen müssen, warten hinter anderen Türen Patienten, die wir vor schlimmen Komplikationen bewahren können: etwa durch einen erfolgreichen Herzkatheter-Eingriff bei verengtem Herzkranzgefäß oder durch eine neu angesetzte Blutverdünnung bei Herzrhythmusstörung zur Vermeidung eines Schlaganfalles. Ich mach mir dann immer gern bewusst, welchen Segen die heutige Medizin bietet, und erkenne, wie viel Gutes man damit tun kann. Das sagt mir sehr zu, schließlich habe ich mich für das Medizinstudium ja entschieden, um Menschen ärztlich helfen zu können. Und habe diesbezüglich in den Internisten des St. Gertrauden-Krankenhauses jede Menge neuer Vorbilder gefunden.

Die erwähnten Patientenfälle entsprechen der Wahrheit, die personenbezogenen Angaben zu den Patienten wurden jedoch aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht abgewandelt.

Leonard Hillmann

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