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Gesundheit: Ein neuer Mensch entsteigt den Fluten

Wie aus Patienten Urlauber wurden. Eine kleine Geschichte des Strandlebens.

Zwei Drittel des Welttourismus konzentrieren sich auf die Sonnenküsten. Der Strand als eine abgegrenzte Freizeit-Enklave ist dabei eine europäische Erfindung. Die „Natur“ feiernd und doch durch und durch künstlich hat sich hier der vergeistigte Leistungsmensch seine Gegenwelt erschaffen. Die Wurzel des heutigen Strandlebens liegt nicht etwa in der sorglos-heiteren Wärme des Südens, sie liegt in der kühlen Frische des Nordens, am Atlantik, an Nord- und Ostsee.

Seit alters war das Meer ein Raum voller Gefahr: Monster und Piraten, Stürme und Fluten, mörderische Klippen und öde Strände. Im 18. Jahrhundert aber wichen Furcht und Abscheu der Ergriffenheit vor der Erhabenheit der Natur. Indem Maler und Dichter das Meer zur Zuflucht vor den Leiden an der verkünstelten Zivilisation erhoben, sanken auch die Hemmschwellen, den Körper dieser Naturgewalt auszusetzen. Die Legitimation dafür lieferten Ärzte: Richard Russells Dissertation betreffend den Gebrauch des Meerwassers bei Drüsenerkrankungen ließ die Londoner Society seit 1750 nach Brighton pilgern. Um 1800 entstanden dann die ersten deutschen Seebäder: Heiligendamm, Norderney, Travemünde.

Küstenbewohner haben zu allen Zeiten im Meer gebadet; die Bewegung im Wasser hat etwas Lustvolles, das vor aller Begründung liegt. Doch nun nahm sich die Wissenschaft der Sache an. Die Frühgeschichte der Seebäder liest sich wie eine Geschichte der Domestizierung und Privilegierung des Badens. So verlangte die Zoppoter Badeordnung 1820: „Ohne ausdrückliche Vorschrift des Arztes darf kein Kranker den Gebrauch des Seebades sich erlauben.“ Und so hielten sich die wenigen Gäste nicht länger als medizinisch notwendig am Strand auf. Kinder hatten hier nichts zu suchen. Die Badeberechtigten bestiegen einen pferdebespannten „Badekarren“, der sie ins flache Wasser brachte, wo sie – vor neugierigen Blicken durch eine ausklappbare Markise geschützt – ihre nackten Körper kurz ins kalte Nass tauchten. Das Baden war eine ärztlich überwachte Taufe, eine scharfe Schockbehandlung, die die bösen Säfte austreibt und die zerrütteten „Nerven“ wieder in geordnete Bahnen lenkt. Ein neuer Mensch entstieg den Fluten.

Bis heute nistet der archaisch-magische Konnex von Wasser, Tod und Wiedergeburt in unserer Seele. Doch je mehr Menschen mit dem Wasser vertraut wurden, desto mehr stieß das ärztliche Regiment auf Widerstand: In den Seebädern kam es zu einem langen Ringen zwischen dem Kur- und dem Lustprinzip.

Um 1900 hatte das Lustprinzip gesiegt; der Badeurlaub erlebte seinen ersten Boom. Fast eine Million Gäste, einschließlich Kurzbesucher, dürften schließlich in die rund fünfzig Seebäder des Kaiserreichs geströmt sein. Hierbei rückte ein neuartiger Raum in den Mittelpunkt des Tagesablaufs: der Strand. Dieser Strand ist ein Kunstprodukt, eigens für die Touristen erschaffen – gepflegt, gereinigt, überwacht und möbliert. Ein „natürlicher“ Strand, voller Algen, Schlick und Treibgut, wäre unverkäuflich. Und so wurde der einstige Un-Ort nun massenhaft von den Urlaubern mit Leben gefüllt; Verhaltensmuster bildeten sich heraus, die im Prinzip bis heute Bestand haben.

Ungeachtet der oft drangvollen Enge war der Strand ein ungeselliger, parzellierter Ort. In diesem zugleich öffentlichen und privaten Raum war die Grenzziehung prekär. Ein komplexes Territorialverhalten regulierte das Spiel zwischen Nähe und Distanz. Sobald die Familie das Areal betrat und sich einen Strandkorb – der seit den 1880er Jahren beliebt wurde – oder ein „freies Plätzchen“ erwählt hatte, wurden die Grenzen des Claims mit den Badeutensilien abgesteckt. Verbunden zwar über die Blicke, blieb man sozial isoliert – alone together, wie es der Anthropologe Robert Edgerton ausdrückt. Die Kontakte beschränkten sich auf das Nötigste; Kinder wurden zur Zurückhaltung ermahnt. Hans Fallada schrieb über seine Kindheit um 1900: Jede Familie „hielt sich am liebsten allein, man ,kannte die Leute doch nicht so!‘, am besten ließ man sich mit niemandem ein!“

Doch während der Idealstrand der Werbung menschenleer ist, wären die Urlauber über einen wirklichen leeren Badestrand keineswegs glücklich. Was gäbe es in dieser Tristesse zu sehen, und wer könnte sie sehen? Des ungeachtet blieb die Präsentation des Körpers und des privaten Tuns gewöhnungsbedürftig. Die Augen zu schließen oder sich hinter einem Buch zu verstecken, waren probate Mittel, sich aus der Umwelt zu lösen. Sinnbild der Verteidigung bürgerlicher Privatheit wurde die Sandburg.

Beim Burgenbau durfte der Vater dem „Kind im Manne“ freien Lauf lassen, wobei er zugleich seinem funktionslosen Stranddasein ein wenig Sinn verleihen konnte. Denn die Hauptbeschäftigung war das Nichtstun, genauer das scheinbare Nichtstun: Muscheln suchen, Karten spielen, dösen, schlafen – vor allem aber das Treiben der anderen beobachten. Manche lauerten hierbei auf Erotisches, andere blickten interesselos ins Nichts der wuselnden Menschenmassen, ins Spiel der Wolken und Wellen. Eine „Welt außerhalb der Zeit“, so der Soziologe Christoph Hennig, in der Kinder, Mütter und Jugendliche den Ton angaben und die Väter vom Patriarchen zum buddelnden Knaben retardierten.

Baden durfte man an diesen Arealen – dem „neutralen Strand“ – nicht; hierzu dienten ausschließlich die Badeanstalten. Solche Anlagen, mit Umkleidekabinen und ins Meer reichenden Stegen, gehörten nun zur Grundausstattung eines Seebads. Die sichernden Badekarren passten nicht zum neuen Badestil und waren dem Ansturm auch gar nicht gewachsen. Zwar sorgten gestrenge Bademeister und -frauen für Zucht und Sitte, doch das Regime der Ärzte war gebrochen. Mit dem Eintrittsbillett erwarb man keine medizinische Leistung, sondern das Recht, sich frei im Wasser zu bewegen. Die „kontrollierte Zurückhaltung“ wurde zu „kindlicher Euphorie“, konstatiert der Historiker Ovar Löfgren.

Die Badeanstalt schuf einen „institutionalisierten Ort der Annäherung der Leiber“, so der Historiker Jean-Didier Urbain – zunächst streng nach Geschlechtern getrennt. Dies warf heikle Fragen auf: „Eigentlich war ich schon zu groß für das Damenbad“, erinnert sich Fallada, „mich aber allein ins Herrenbad zu schicken und den treulosen Fluten anzuvertrauen, das war erst recht untunlich!“ 1902 gestattete die preußische Regierung die Einrichtung von gemischten „Familienbädern“.

Die Neujustierung der Körpergrenzen erfolgte unter Beachtung sichernder Regeln. Es galt, Blickkompetenz zu erwerben: „Man“ starrt nicht auf andere. Und „frau“ gibt keinen Anlass zu indezenten Blicken. Dafür sollte auch die Badekleidung sorgen, deren Schicklichkeit die Strandwärter kontrollierten. Männer trugen ein gestreiftes Wolltrikot; Frauen mussten zunächst in einem rüschenverzierten Hosenanzug baden. Diese zum Schwimmen ungeeigneten Kreationen wurden um 1910 durch leichtere Trikots ersetzt. Ein Trend zum sparsamen Stoffverbrauch wurde sichtbar.

Denn im Bürgertum gärte ein Unbehagen an den Panzerungen, die es einst selbst errichtet hatte. Der Körper leidet plötzlich unter den Einschnürungen, an Fischbeinkorsetts und Vatermörderkragen, macht Anspruch auf freie Entfaltung in Licht und Luft. Der Ratgeber „Die Frau als Hausärztin“ geißelte 1905 die Abschirmung der Sonnenstrahlen: „Welche Verwirrung, welche krankhafte Überkultur!“ In der Sonne zu baden entspräche „dem Urzustand des Menschen“.

Der Strand wird zum Ort, wo sich dieser zivilisatorisch geläuterte Anspruch auf Natürlichkeit am augenfälligsten geltend machte. Die Frische des Nordens, die beim Baden im Meer Pate gestanden hatte, lud sich mit alten Sehnsuchtsbildern von sonnigen Gestaden auf, vom Paradies der Südsee, von Tahiti und Samoa – der Strand als ortloses „Südland“ (Edgerton) war geboren.

Entsprechend begann das Ideal der vornehmen Blässe dem der „gesunden“ Bräune zu weichen. So wirbt 1904 die Badekommission von Wyk auf Föhr: „Die Erwachsenen aber verbringen die Zeit in köstlichem Nichtstun. Sie lassen sich von der Sonne bescheinen, die schnell die blassesten Gesichter braun färbt.“ Was eben noch ein abstoßendes Zeichen niederen Standes war, ist nun ein Werbeargument. Die blasse Haut wird zum Kainsmal des Nichturlaubers; das „gute Leben“ wird im Süden verortet.

Der Autor ist Mitarbeiter am Willy Scharnow-Institut für Tourismus der Freien Universität Berlin.

Hasso Spode

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