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Gesundheit: „Eine Familie ist wie eine Versicherung“

Geld und gute Taten: Der Berliner Soziologe Martin Kohli über den privaten Generationenvertrag

Herr Kohli, wo bleibt die Gerechtigkeit zwischen den Generationen? Heute zahlen wir die üppigen Renten unserer Eltern, aber im Alter werden wir ärmer als sie sein.

(Lacht.) Ihre Frage ist etwas polemisch gestellt. Dabei geht unter, dass die Älteren durch ihre Lebensleistungen vieles zum Wohlstand in Deutschland beigetragen haben. Den Jüngeren geht es heute besser, als es sich die Älteren in ihrer Jugend jemals träumen ließen. Außerdem sind die Älteren nicht nur Empfänger von Leistungen, sondern auch Geber. Das nimmt man in der öffentlichen Debatte viel zu wenig wahr.

Was geben die Älteren?

Dem öffentlichen Generationenvertrag, der die Umlage von den Erwerbstätigen zu den Rentnern regelt, entspricht ein privater Generationenvertrag in umgekehrter Richtung. Die Älteren tragen sehr viel bei zur ökonomischen Wertschöpfung und zur sozialen Integration unserer Gesellschaft: Mit produktiver unbezahlter Arbeit in Ehrenämtern, Pflegetätigkeiten oder der Betreuung von Enkeln. Dabei handelt es sich nicht um reine Liebesdienste. Junge Frauen etwa können dank der Hilfe Mutterschaft und Beruf verbinden. Die Großeltern springen ein, wenn die Kita ausfällt. Schließlich geht es auch um Geld. Nach der Umfrage, auf die ich mich stütze, haben 23 Prozent der Älteren ihre erwachsenen Kinder während der letzten 12 Monate materiell unterstützt, aber nur zwei Prozent Geld von ihren Kindern erhalten.

Austausch zwischen den Generationen, engagierte Großeltern? Gibt es jene so oft beklagte Kluft zwischen Alt und Jung nicht mehr?

Es ist erstaunlich, wie viele Leistungen und Zuwendungen erbracht werden. Auch ich bin lange von der Vorstellung ausgegangen, dass die Generationensolidarität stark im Rückgang ist. Tatsächlich aber gibt es in Umfragen große Zustimmung zu Aussagen wie: „Wenn meine Angehörigen Hilfe brauchen, werde ich immer einspringen.“ Allerdings leben heute von den Deutschen zwischen 70 und 85 Jahren, die überhaupt Kinder haben, nur neun Prozent mit einem Kind im selben Haushalt. Aber das Bild ändert sich, wenn man die Grenzen des „Zusammenwohnens“ weiter zieht: Mehr als ein Viertel der Alten lebt mit einem Kind in einem Haus, 45 Prozent haben mindestens ein Kind in der Nachbarschaft, zwei Drittel im selben Ort.

Welche Bedeutung hat die materielle Hilfe innerhalb der Familie?

Transfers unter Lebenden erfolgen, wenn sie das Geld wirklich noch brauchen, am Anfang des Erwachsenenlebens, wenn es um den Aufbau einer Familie und die heute schwierige Phase des Fußfassens in der Arbeitswelt geht. Die Familie stellt eine Art informelles Versicherungssystem dar, das bei Risiken, beispielsweise im Erwerbsleben oder bei Scheidungen, in Kraft tritt.

Sie liefern den neoliberalen Kräften, die den Wohlfahrtsstaat radikal umbauen wollen, gute Argumente: Wenn alle wieder mit anpacken, brauchen wir deutlich weniger staatliche Transferleistungen.

Das wäre kein richtiger Schluss aus unseren Erkenntnissen. Gerade in unteren Einkommensschichten machen die öffentlichen Transfers fast das ganze Einkommen der Älteren aus. Sie können nur dann etwas geben, wenn sie durch den öffentlichen Generationenvertrag dazu in die Lage versetzt werden. Das trifft auch zu für die besonderen Risiken im Alterungsprozess: Wenn Pflege oder künstliche Hüftgelenke in Zukunft nicht mehr von der Solidargemeinschaft getragen werden sollten, wird Leuten mit niedrigen Einkommen Geld und Kraft fehlen, sich für ihre Kinder oder für die Gesellschaft zu engagieren.Wir müssen davon wegkommen, Familie und Wohlfahrtsstaat als Antagonisten zu sehen.

Sind individuelle Transfers überhaupt messbar, und lassen sie sich gegen Defizite im Rentensystem aufrechnen?

Durchaus. Über 59jährige Geber schenken ihren Verwandten nach dem deutschen Alters-Survey von 1996 etwa 3650 Euro netto jährlich. Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung der 60- bis 85-Jährigen sind das 17,2 Milliarden Euro im Jahr oder rund neun Prozent der Auszahlungen der gesetzlichen Altersversorgung. Auch den Stellenwert von Ehrenamt, Pflege und Kinderbetreuung kann man heute schon beziffern: 23 Prozent der 60- bis 85-Jährigen betreuen ihre Enkelkinder, elf Prozent pflegen einen Angehörigen und neun Prozent engagieren sich in einem Ehrenamt. Für diese Tätigkeiten werden jährlich 3,5 Milliarden Arbeitsstunden aufgewendet; mit einem üblichen Nettostundenlohn bewertet, wären das insgesamt 41,3 Milliarden Euro, was 21 Prozent der gesetzlichen Altersversorgung entspricht.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen früher Verrentung und zivilgesellschaftlichem Engagement: Eine 56-jährige Lehrerin schafft es nicht mehr, vor der Klasse zu stehen, aber für Enkel und Ehrenämter ist sie voll da?

In einzelnen Fällen wird der Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit genutzt, um Dinge zu tun, für die sonst Zeit und Energie nicht gereicht hätten. Aber generell ist der Zusammenhang zwischen frühem Ausstieg und Ehrenamt nicht gegeben. Wir sehen eher, dass es Menschen gibt, die in mehreren Feldern aktiv sind und andere, die überhaupt nichts mehr für andere unternehmen.

Die Daten, auf die Sie sich stützen, stammen aus dem deutschen Alters-Survey von 1996. Gibt es Anzeichen für eine Verschiebung nach der Jahrtausendwende?

Ich vermute, dass die Bereitschaft, ein Ehrenamt zu übernehmen, bei den neuen Alten noch zunimmt: Sie haben eine bessere Schulbildung, sie sind gesünder und stehen wirtschaftlich (bisher noch) besser da.

Was uns heute Sorgen macht, ist die Situation in 30 Jahren. Viele 35- bis 40-Jährige steuern auf Kleinstrenten zu; ihre Kinder und Enkel werden sie nicht mehr unterstützen können.

Man sollte es mit solchen Szenarien nicht übertreiben. Das Rentensystem muss angepasst werden, aber eine verbreitete Altersarmut kann verhindert werden. Das klappt, wenn die Stellschrauben, die Rürup vorschlägt, gedreht werden: Der demografische Faktor muss berücksichtigt und das Rentenalter längerfristig erhöht werden. Zu wenig wird gesehen, dass durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen der Druck auf das Rentensystem gemildert wird. Immer wichtiger wird auch eine regelmäßige Zuwanderung.

Gegen die Rente mit 67 laufen jetzt Politiker aller Parteien Sturm.

Menschen, die auch ab 65 noch aktiv sein wollen, sind ein Potenzial, das bisher aus Arbeitsmarktgründen nicht ausgeschöpft wurde. Die mittlere Lebenserwartung erhöht sich kontinuierlich, und das wird eine wirkliche Veränderung der Lebensläufe mit sich bringen. Der Übergang zu 67 ist langfristig gesehen eine moderate Sache.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

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