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Gesundheit: „Eine Frage der religiösen Überzeugung“ Ist das Schreiben jetzt einfacher?

Der Linguist Gerhard Stickel erklärt, warum viele Deutsche sich über die Reform ärgern

Herr Stickel, der Streit um die Reform der deutschen Rechtschreibung hat neun Jahre nach dem Beginn der Einführung der neuen Regeln nichts an Heftigkeit, ja Aggressivität verloren. Erstaunt Sie das?

Was mich erstaunt – und ich habe das seit neun Jahren beobachtet –, ist, dass dies immer im Sommer passiert. Auch als die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter großem Brimborium die Rückkehr zu den alten Regeln verkündete, war es Sommer. Offenbar ist dann sonst nicht sehr viel los, es wird ja gerade nicht einmal ein neuer Papst gewählt.

Im Ausland regt man sich auch im Sommer nicht über die Rechtschreibung auf. Ist dies vielleicht eine Frage der deutschen Mentalität?

Nein, um sie auf den Typ des ordnungsliebenden Gartenzwergs festzulegen, ist die deutsche Bevölkerung viel zu heterogen. In sprachlicher Hinsicht sind die Deutschen sonst sogar sehr viel liberaler als die Menschen in anderen Ländern. In Großbritannien muss jeder Politiker Queen’s English sprechen, also Received Pronunciation, in Frankreich sprechen sogar die Gewerkschaftsbosse à la parisienne. Bei uns dagegen können Sie jedem Bundeskanzler oder Bundespräsidenten anhören, woher er stammt, wir gehen mit mundartlicher Überformung der Hochsprache erstaunlich locker um.

Warum ärgert uns dann die Rechtschreibreform mehr als etwa die Schweizer?

Die Schweiz hat sehr viel wichtigere sprachliche Probleme. Zum einen, weil sie ein mehrsprachiges Land ist. Außerdem herrscht in der Deutschschweiz Diglossie, also funktionale Zweisprachigkeit: Gesprochen wird in der kantonalen Mundart; geschrieben werden muss aber hochdeutsch. In Deutschland wird die Rechtschreibung in der Öffentlichkeit auf erstaunliche Art und Weise überbewertet. Sie gilt als Symptom für Intelligenz. Wer die Regeln beherrscht, gilt als klug, wer nicht, als dumm. Dabei hat die empirische Forschung belegt, dass die Beherrschung der Rechtschreibregeln nicht deutlich mit der kognitiven Intelligenz korreliert. Trotzdem gilt die Rechtschreibung etwa in den Personalabteilungen der Firmen und auch sonst als Qualitätsmerkmal. Vielleicht, weil Kategorien wie Schönschrift, adlige oder bürgerliche Herkunft nichts mehr über berufliche Qualifikation aussagen.

Soll das heißen, im Grunde spielt es keine Rolle, ob in Deutschland einheitliche Rechtschreibregeln herrschen?

Nein, bei der Schreibung kommt es natürlich auf weitgehende Einheitlichkeit an, damit man sich zwischen Greifswald und Bern, zwischen Flensburg und Graz zumindest schriftsprachlich verständigen kann. Trotzdem hat die Rechtschreibung längst nicht so viel mit Sprache zu tun, wie oft behauptet wird. Es handelt sich bei der Schreibung weitgehend nur um die Verpackung, um die äußere Hülle der Sprache. Abgesehen von wenigen Fällen sind durch die Rechtschreibreform kaum Inhalte betroffen. Trotzdem sprechen viele Menschen von der Rechtschreibreform als einer Sprachreform. An der deutschen Sprache wird aber durch die wenigen Neuerungen der Schreibung nichts geändert.

Könnte es sein, dass die Kritiker sich auch gegen die Reform wehren, weil sie sich vom Staat bevormundet fühlen?

Bei der derzeitigen Reform empört von staatlichem Zwang zu reden, ist ein historischer Irrtum. Auch die alte Rechtschreibung ließ doch dem einzelnen Schreiber keine Wahlfreiheit. Rechtschreibung ist immer schon normativ vorgegeben worden. Im Spätmittelalter waren es Druckereien und Verlage, die den Ton angaben, später, als die allgemeine Schulpflicht im Lauf des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, die Schulbehörden, also staatliche Organe. Die Regeln sind nie frei zwischen den Bürgern ausgehandelt worden.

Im Widerstand sind konservative Bildungsbürger von Zeitungen wie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit meist bildungsfernen „Bild“-Zeitungslesern vereint. Haben beide Gruppen dennoch die gleichen Beweggründe?

Es gibt eine emotionale Gemeinsamkeit, eine generelle konservative Haltung. Was man hat oder zu haben glaubt, will man nicht gefährden. Überhaupt wehren sich die meisten Menschen gegen Veränderungen, die sie nicht selbst bewirkt haben. Menschen mit Schreibberufen wie Schriftsteller fühlen sich in ihrer Arbeit behindert, wenn sie über neue Regeln nachdenken müssen. Schreibungeübte Menschen dagegen, die schon die alten Regeln nicht beherrscht haben, befürchten, dass es mit den neuen nur noch schlimmer werden kann. So hat der Widerstand auch etwas mit Unkenntnis und Unsicherheit zu tun. In vielen Zeitungsartikel werden Beispiele für Schrecknisse der neuen Regeln angeführt, die es gar nicht gibt. So war „Filosofie“ nie ein ernsthafter Reformvorschlag. Vermeintlich neue Kommaregelen, die es in Wahrheit schon lange vor der Reform gab, werden kritisiert. Tatsächlich merken Leser, die am Nachrichteninhalt interessiert sind, gar nicht oder nur selten, ob sie einen Artikel in der alten oder der neuen Schreibweise lesen.

Trotzdem gibt es immer wieder Politiker, die versuchen, die Reform zu bremsen.

Die Rechtschreibreform als Kampfziel zu nennen, verschafft schnell viel Beifall. Denn der jahrelange Austausch von Argumenten hat bei den Kontrahenten zu keiner Annäherung geführt. Es ist ähnlich wie bei religiösen Überzeugungen: Sie sind nun einmal da und durch nichts zu erschüttern. Doch auch diese unendliche Geschichte wird eines Tages vorbeigehen, spätestens dann, wenn die Medien es leid sind, darüber zu berichten. Auch nach dem Jahr 1902, als die bis vor einigen Jahren geltende Rechtschreibung für das deutsche Reich und darüber hinaus verbindlich wurde, stritt man jahrelang. Damals wurde das h in Worten wie „thun“ oder „Thür“ abgeschafft. Wilhelm II. weigerte sich elf Jahre lang, Briefe in der neuen Schreibweise anzunehmen, und behinderte die Reform, so gut er konnte. Dann kam der Erste Weltkrieg, da hatte er andere Sorgen.

Die Menschen scheinen eine unterschiedliche Toleranz gegenüber den neuen Regeln zu haben. Bei manchen beginnt die Aversion gegen die Reform schon mit „Kuss“, bei anderen erst bei „deplatziert“.

Die Menschen sind nun mal verschieden. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit 50 aufgeregten Dichtern 1996 in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Manche von ihnen meinten, die Reform werde zu einem tiefen Bruch unserer Schreib- und Lesekultur führen, ganze Bibliotheken würden vernichtet. Andere sagten dagegen: „Ihr Feiglinge, da hätte man doch viel mehr machen können.“ Wenn es um die Sprache geht, hat jeder seine Meinung – und auch seine Allergien.

Lassen sich den verschiedenen Schreibtypen allgemeine Weltanschauungsmuster oder gar bestimmte Charaktereigenschaften zuordnen?

Das habe ich auch zeitweilig geglaubt. Bei früheren Reformversuchen in den sechziger und siebziger Jahren galten die Reformbefürworter als links, die Gegner als rechts. Aber dann habe ich Erzkonservative getroffen, die für die Kleinschreibung von Substantiven eintraten. Die politische Einstellung ist nur eine von mehreren Dimensionen. Der Hauptgrund für die Ablehnung der Reform bleibt das Bedürfnis, sich nicht ohne Not ändern zu müssen. Dabei ist vielen nicht bewusst, dass sie auch bei den alten Regeln bleiben können. Die Reform ist ja nur für die Schule und den öffentlichen Dienst verbindlich. Außerdem wirken sich die Neuerungen im tatsächlichen Schreibgebrauch viel weniger aus, als manche Kritiker behaupten. „Das Bändel ist belämmert“ – das habe ich vorher noch nie geschrieben.

Das Gespräch führte Anja Kühne

Das Kernziel der Rechtschreibreform lautet: Die deutsche Rechtschreibung soll einfacher werden. Quantitativ ist das gelungen. 1991, im letzten Vor-Reform-Duden, wurden 212 Schreib- und Kommaregeln aufgelistet. Im jüngsten Duden (2004) gibt es noch 169. In der ersten Reformausgabe von 1996 waren es sogar nur 136.

Bedeuten weniger Regeln aber auch leichtere Regeln? Ja – zumindest, wenn man das „Kosog’sche Diktat“ zum Maßstab nimmt, das lange als das schwierigste in Deutschland galt. Der Lehrer Oskar Kosog nutzte den Text um 1900 für Untersuchungen, um den Spitzfindigkeiten der Rechtschreibung auf den Grund zu gehen. Eine Kostprobe des Diktats in den alten Regeln: „Tut nie unrecht, seid Ihr aber im Recht, so habt Ihr recht, ja das größte Recht, wenn Ihr Euer Recht sucht, und Ihr werdet alsdann im allgemeinen auch recht behalten.“ Nach den neuen Schreibweisen sieht der Text einfacher aus: „Tut nie Unrecht, seid ihr aber im Recht, so habt ihr Recht, ja das größte Recht, wenn ihr euer Recht sucht, und ihr werdet alsdann im Allgemeinen auch Recht behalten.“

Grundschullehrer berichten, dass für Kinder „das Schreiben mit den neuen Regeln einfacher gworden ist“, sagt Marianne Demmer von der reformfreundlichen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Die Illusion, dass mit der Reform die Fehlerzahlen dramatisch absinken, ist Illusion geblieben“, sagt dagegen Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des reformkritischen Philologenverbandes. Auf Studien stützen sich beide nicht.

Tatsächlich gibt es nur eine Studie, die Schreibleistungen von Kindern vor und nach der Reform vergleicht. Das Ergebnis sagt allerdings nur bedingt etwas darüber aus, ob die neuen Regeln einfacher sind. Demnach machen die Schüler jetzt zwar mehr Fehler – aber nur, weil sie die alten Schreibweisen noch in Büchern oder Zeitungen finden und nicht wissen, bei welchen Wörtern die neuen Regeln gelten. Deswegen neigen Schüler zum „Übergeneralisieren“, sagt der Erziehungswissenschaftler Harald Marx, der die Studie leitet. Sprich: Die Kinder wenden Reformregeln auf Wörter an, die gar nicht geändert wurden.

Ein Beispiel: Vor der Reform im Jahr 1996 wussten noch 70 Prozent der Viertklässler, wie sie Straße richtig schreiben. 2004 schrieben mehr als 65 Prozent der getesteten Viertklässler Strase oder Strasse – obwohl es noch immer Straße heißt. „Die Kinder lassen das ß einfach ganz weg“, sagt Marx. Sobald sich die neuen Schreibweisen durchgesetzt haben, müsste die Fehlerquote wieder sinken, sagt Marx. Dafür, dass die Konfusion und nicht die Regeln für die Fehler verantwortlich sind, spricht auch, dass tatsächlich geänderte Wörter wie Kuss (vorher Kuß) den Schülern durchweg keine Schwierigkeiten bereiten.

Die Studie testete jedoch nur die s-Schreibung. Wie Schüler mit anderen neuen Regeln zurechtkommen, bleibt eine offene Frage.

Gerhard Stickel war zwischen 1976 und 2002 Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und ist Honorarprofessor für Linguistik an der Universität Mannheim

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