zum Hauptinhalt

Gesundheit: „Es ging um Deutschlands Einheit“

Die Historikerin Heidi Roth gilt als die Expertin für die Geschichte des 17. Juni – Was in Görlitz geschah

WISSENSCHAFTSKALENDER

Dienstag (10. 6.): Wissenschaftszentrum; Dietlind Stolle zur „Entwicklung ziviler Werte“, 16 Uhr 30, Reichpietschufer 50. – EinsteinForum; Victor Stoichita über „Einen Beitrag zur Legende des Künstlers“, 19 Uhr, Am Neuen Markt 7, Potsdam. – Mittwoch (11. 6.): Gesellschaft für französischsprachige Philosophie; Vincent von Wroblewsky über „ Sartre und Houellebecq“, 18 Uhr 15, Maison de France, Kurfürstendamm 211.

Der 17. Juni 1953 gilt heute als Versuch einer Revolution. Halten Sie diese Definition für gerechtfertigt? Zielten die demonstrierenden Arbeiter wirklich auf eine grundlegende Umgestaltung von Staat und Gesellschaft?

Meine neuen regionalen Untersuchungen bestätigen die Revolutionsthese. In Görlitz zum Beispiel haben die Aufständischen selbst diesen Begriff gebraucht. Dass sie innerhalb weniger Stunden beendet wurde, ist die Tragik dieser Revolution.

Das große Forschungsthema der letzten Jahre ist ein regionales: die Unruhen auch in kleineren Städten und Dörfern. Passierte dort im kleinen Maßstab, was in der Hauptstadt vorgemacht wurde?

Es gab nicht den 17. Juni, sondern lokal und regional sehr große Unterschiede. Die Gemeinsamkeiten springen natürlich ins Auge: Die am Morgen des 17. Juni beginnenden Streiks, die oft gleich lautenden Losungen wie „Solidarität mit Berlin“. Überall schlossen sich den Demonstrationszügen spontan Anwohner und Passanten an, und sie stürmten die Symbole der SED-Macht wie Kreisleitungen, Stasizentralen und Gefängnisse. Das Spannende aber sind die Unterschiede.

Was war in Görlitz anders als in Berlin?

In Görlitz fing es so an wie in Berlin: Aus den großen Betrieben zogen sie schnell in die Innenstadt, mittags waren schon 30000 Menschen unterwegs. Aber gerade dort gab es viele Besonderheiten: Ein überbetriebliches Streikkomitee setzte sich an die Spitze des Zuges und es organisierte eine Kundgebung. Im Unterschied zu Berlin, Dresden, Leipzig zitierten sie in Görlitz den Bürgermeister herbei, er sollte Rede und Antwort stehen. Sie stellten ihm direkte Fragen: Wann tritt die Regierung zurück? Wann finden freie Wahlen statt? Der Bürgermeister wollte eine Rede halten zu den ernsten Fehlern der Partei in der Vergangenheit und zur Politik des Neuen Kurses. Daraufhin wurde er unter dem Beifall der Menge „abgewählt“. Ein freiwilliges Stadtkomitee trat zusammen und regelte mit dem abgesetzten Bürgermeister die friedliche Übergabe der Macht. Er unterschrieb sogar ein Dokument, dass die politischen Gefangenen freizulassen seien. Die Görlitzer glaubten schon, die Revolution habe gesiegt.

Forderten sie auch die deutsche Einheit?

Klar, es ging ihnen um freie Wahlen in ganz Deutschland, also auch um die Einheit. Und dann sangen sie auch die dritte Strophe des Deutschlandliedes. Aber da war bereits der Ausnahmezustand verhängt.

Und wie endete der Traum von der Freiheit?

Zwischen 16 und 18 Uhr fuhr eine Kolonne der Roten Armee mit Panzern und Fahrzeugen auf. Am nächsten Tag gingen die Görlitzer zwar in die Betriebe, nahmen aber die Arbeit nicht auf. Am 19. Juni war der Streik beendet, nachdem Erschießungen angedroht wurden.

Die Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, vergleicht den 17. Juni mit der Französischen Revolution, und sagt, die Ostdeutschen sollten stolz darauf sein. Der Leiter der Stasi-Gedenkstätte, Hubertus Knabe, plädiert für einen offiziellen Gedenktag für Demokratiebewegungen. Die DDR aber hatte den Aufstand als „faschistischen Putschversuch“ diskreditiert. Ist das kollektive Gedächtnis der Ostdeutschen umkehrbar?

Nach der Wende gab es vor allem bei den Zeitzeugen ein großes Bedürfnis, darüber zu reden – heute sind viele damit durch. Nach der Wende waren sie auch davon enttäuscht, dass ausgerechnet der 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ nach der Wiedervereinigung abgeschafft wurde. Vielleicht kommt die Diskussion über den Feiertag jetzt zu spät. Wichtiger wäre ohnehin zu fragen: Welche Erfahrungen haben die Ostdeutschen nach dem 17. Juni 1953 gemacht? Wie hat sie das Trauma der gewaltsamen Niederschlagung und die Enttäuschung, von Westdeutschland „alleine gelassen“ worden zu sein, geprägt? Warum dauerte es bis 1989, bis die Ostdeutschen wieder auf die Straße gingen? Und was können sie durch diesen Kampf für die Demokratie in die heutige Gesellschaft einbringen?

Frauen kommen in den Dokumentationen kaum vor: Man sieht sie nicht in den Demozügen, sie treten nicht als Zeitzeugen auf. Was wissen Sie heute über die Rolle der Frauen?

In Leipzig wurden 32 Streikleitungen verhaftet, unter den 235 Verhafteten waren 11 Frauen. Als später angebliche Rädelsführer „entlarvt“ wurden, stand bei der Betriebsversammlung des „VEB Schrott“ in Leipzig eine junge Sekretärin auf, und sagte: Wir waren alle dabei, das ist doch ungerecht, jetzt fünf Männer an den Pranger zu stellen. Sie wurde gleich fristlos mitentlassen.

Der 17. Juni scheint heute fast erschöpfend erforscht, jede Minute bis in die kleinsten Orte rekonstruiert zu sein. Oder sind doch noch neue Erkenntnisse zu erwarten?

Was nicht öffentlich und spektakulär passierte, ist unbekannt: Warum wurde in bestimmten Regionen nicht demonstriert? Was passierte in den Familien, wie wurde diskutiert? Wie reagierten Familien auf den Verlust von Vätern und Söhnen, über den nie offen gesprochen werden durfte?

Sie sind Jahrgang 1944, wie wurde das Datum in Ihrer Schul- und Studienzeit behandelt?

Das Ereignis wurde im Schulunterricht nicht erwähnt. Als ich Geschichte an der Universität Leipzig studierte, galt noch These vom „faschistischen Putsch“, von der durch angeblich Westdeutschland gesteuerten Konterrevolution. Ich war ja Assistentin und SED-Mitglied, da konnte ich das nicht in Frage stellten, aber ich konnte sagen: Wenn unsere Leute ihren Staat mit Haut und Haaren verteidigt hätten, hätte der Klassengegner gar nichts machen können. Also müssen wir uns mit der Situation der DDR 1953 beschäftigen. Mitte der 80er Jahre hielt ich erstmals eine Vorlesung über diese Fragen und 1988 schickte ich meine Lehrerstudenten in die Archive, um über den 17. Juni 1953 in einigen Städten zu recherchieren. Aus heutiger Sicht ist das natürlich kläglich, was ich damals gemacht habe. Aber die intensive Auseinandersetzung mit dem 17. Juni hat mir auch geholfen, mit meiner DDR–Vergangenheit zurecht zu kommen. Schließlich habe ich das offizielle Geschichtsbild auch über viele Jahre an die Studenten weitergegeben. Die Arbeit mit den Akten war meine Art der Wiedergutmachung.

Was lernen Kinder und Jugendliche heute über den 17. Juni?

In Ost und West ist das Nichtwissen gleich groß. Im Unterricht kommt man gar nicht zur jüngsten Zeitgeschichte. Aber das Interesse ist da. Schülerprojekte, die wir in Leipzig zu unserer großen Ausstellung zum 17. Juni machen, beweisen das. In Görlitz haben Jugendliche anhand von Tonbandprotokollen ein Theaterstück über die Kundgebung 1953 gemacht und ganz von alleine ihre Bilder vom Herbst 1989 mit verarbeitet. Das hat mich sehr berührt, wie engagiert sie mit dieser Geschichte umgehen.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Die Ausstellung „Ausnahmezustand. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Leipzig und Umgebung“ eröffnet am 17. Juni im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig im Alten Rathaus (bis 12. Oktober). www.17-Juni-1953-in-Leipzig.de

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false