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Essen und Trinken: Entblättere mein Herz

Spargel ist überschätzt. Jetzt ist seine Zeit um – und damit Gelegenheit, sich endlich einem wahren Genuss zu widmen: der Artischocke

Vielleicht wird die Artischocke auch deshalb unterschätzt, weil sie so schön ist. Es gibt keine andere Pflanze, die raffinierter aufgebaut wäre und selbst in ihren Details – die Färbung der Blätter an ihren Spitzen, das enigmatische Muster der noch geschlossenen Knospe – so reich und verwegen ist. Die junge Artischocke ist straff, brillant und vielversprechend. Sobald sie zu blühen beginnt, ist sie prächtig wie ein Pfau, der ein Rad schlägt. Der dänische Designer Poul Henningsen ließ sich bei der Arbeit an seiner berühmtesten Lampe, der „Pendelleuchte PH Zapfen“, von der Oberfläche einer Artischocke inspirieren. Seine 1958 entworfene Lampe, der Klassiker skandinavischen Designs schlechthin, hat ungetarnt unter dem Name „Artischocke“ Karriere gemacht – als Synonym für Schönheit, Wohlstand und die hohe Kunst der Nützlichkeit. Dieselben Assoziationen tauchen in der Kulturgeschichte der Artischocke immer wieder auf. Als die Cynara cardunculus im 15. Jahrhundert über den Mittelmeerraum hinaus verbreitet wurde, wo sie die Araber im ersten Jahrhundert nach Christi angesiedelt hatten, riss sich der französische Landadel darum, das ästhetische Statussymbol auch im eigenen Garten zu kultivieren. Der italienische Gemüsehändler Filippo Strozzi bediente dieses Bedürfnis geschickt und machte ein Vermögen damit, die exotische Artischocke von Sizilien nach Frankreich und England zu exportieren. Als ästhetisches Ereignis ist die Artischocke über jeden Zweifel erhaben. Aber ihr Äußeres zu besingen ist ungefähr so abendfüllend wie einen Wein für die Form der Flasche zu loben, in die er abgefüllt ist. Denn die Artischocke ist eine Delikatesse erster Güte. Sie ist da, um gegessen zu werden. Verzehrt. Verschlungen. Auf den Märkten taucht die Artischocke Ende April in guter Gesellschaft auf. Die benachbarten Plätze im Gemüseregal sind für den weißen und grünen Spargel reserviert. Aber während um den Spargel längst die kommerzielle Frühlingshysterie ausgebrochen ist (die nur vom Hype um die ersten Bärlauchblätter im Vorfrühling übertroffen wird, wobei mir niemand erklären kann, warum man freiwillig die Eleganz von jungem Knoblauch gegen den ordinären Bärlauchgeschmack eintauscht), erfreut sich die Artischocke nur kontrollierter Beliebtheit. Spargel auf der Karte jedes Restaurants. Spargelkochbücher. Spargelweine. Aber nur hin und wieder eine halbe Artischocke, vielleicht als Beilage zum Lammkotelett. Die Artischocke, wie wir sie kennen, ist der Blütenstand einer distelähnlichen Kulturpflanze aus der Familie der Korbblütler. Ihr Geschmack ist innig und tief. Ein Bissen von einer gut gegarten Artischocke leistet, wofür ehrgeizige Köche oft tief in die Trickkiste greifen müssen: ein weites Spektrum an Aromen, eine milde Bitterkeit, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, bis sie einen Strauß an Geschmäckern freigibt, die diese Bitterkeit universell ergänzen: süße, salzige und herbe Töne, die auf dem Transmitter der fleischigen Konsistenz der Artischocke höchst elegant zur Geltung kommen. Man kann die Artischocke nicht so einfach schälen wie eine Banane, das stimmt. Sie macht Arbeit, mehr oder weniger Arbeit. Bei Variante zwei (weniger Arbeit) dämpft man die Artischocke im Ganzen und nagt dann das Fleischige von den Blättern, die man aus der Blüte zupft. Das ist okay, aber nicht großartig (außer jemand serviert dazu die sahnige Hollandaise, wie sie in der Normandie hergestellt wird). Aber das permanente Herumpatzen mit den harten Blättern lenkt zu schnell vom Wesentlichen ab, vom eigentlichen Geschmack der Artischocke (und nicht der Mayonnaise, von der man sich mit den Blättchen mehr in den Mund schaufelt, als man wahrhaben möchte). Ich bevorzuge Variante eins (mehr Arbeit), weil das Wichtigste an der Zubereitung der Artischocke die Großzügigkeit ist, mit der man sie putzt: die italienische Küche hat das längst erkannt und entkleidet jede Artischocke ohne Vorbehalte, bis sie nur noch aus dem Stiel und dem Innersten der Blüte besteht, dem Artischockenboden und einer Peripherie der fleischigen Blattansätze. Das geht so: die äußeren Blätter werden nach außen umgebogen und über dem Boden abgebrochen. So arbeitet man sich tief ins Innere des eleganten Kegels vor. Richtig gerüstet ist die Artischocke, wenn man ihr oberes Viertel abgeschnitten, alle Blätter abgebrochen, den Artischockenboden in Form geschnitten, das aus dem Boden sprießende Heu entfernt, den Stiel von seiner harten, grünen Hülle befreit und alle Schnitt- und Bruchstellen mit Zitrone eingerieben hat – sonst verfärben sich die pastellhellen Schnittstellen unschön. Mit den so vorbereiteten Artischocken stellt man jetzt klassischerweise carciofi alla romana her. Man packt die Artischocken kopfüber in den Schmortopf, reibt sie mit Olivenöl, viel Knoblauch, fein gehackter Petersilie, etwas Minze und Zitrone ein. Diese Mischung bringt die in der Artischocke schon angelegten Aromen großartig zur Geltung. Jetzt werden sie bis zur halben Höhe mit Wasser bedeckt und etwa 30 bis 40 Minuten gedünstet, man muss mit der Gabel mühelos zwischen Stil und Boden der gegarten Artischocke stechen können. Lauwarmes Essen ist fast immer interessanter als heißes, und für die Artischocke gilt diese fundamentale Küchenerkenntnis ganz besonders. Während des Abkühlens kann man nun die Garflüssigkeit einkochen, mit der die lauwarmen Artischocken anschließend übergossen werden. Dazu passen zum Beispiel zerdrückte junge Erbsen - noch so ein unterschätztes Gemüse, das man jetzt aus den Schoten holen kann. Im alten Rom wurden Artischocken angeblich serviert, wenn die Mahlzeiten zu ausladend gewesen waren – man sagt ihnen therapeutische Wirkung gegen Völlegefühl nach. Für mich klingt die Intervention freilich paradox: Wenn schon Völlegefühl, dann doch höchstens wegen übertriebenen Artischockengenusses. Vor einem anderen Laster schützen Artischocken allerdings wirkungsvoll. Sie verlangen nach reinem Wasser als Essensbegleiter. Das in der Artischocke enthaltene Cynarin schließt den begleitenden Genuss von Wein völlig aus, falls man vom Wein etwas schmecken will. Man muss also vor und nach dem Essen mehr trinken.

Christian Seiler

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