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Gesundheit: „Ethik entsteht aus Krisen der Moral“

Ludger Honnefelder, Guardini-Professor an der Humboldt-Universität, über Gentests und Islam

Herr Honnefelder, was fehlt unserer bioethischen Debatte?

Wir dürfen unter dem Zwang, in kurzer Zeit Regeln für neue Handlungsmöglichkeiten zu finden, nicht die Fragen übergehen, die dahinter stehen. Etwa die, was wir als Natur des Menschen festhalten wollen. Denn wenn wir Dinge wie Mensch-Tier-Chimären oder künstliche Chromosomen erzeugen können, stellt sich die Frage: Was wollen wir tatsächlich verändern? Philosophie darf sich mit der „Adhocery“ der Regulation nicht zufrieden geben, sondern muss weiter fragen: Was ist überhaupt ein Lebewesen? Was wollen wir als Eltern-Kind-Beziehung festhalten? Welche Rolle billigen wir dem genetischen Zufall zu? Die Philosophie hat sich stets mit der Physik beschäftigt, aber kaum mit dem Lebendigen.

Wer bestimmt eigentlich den Verlauf der Bioethik-Debatten: Die Wirtschaft? Die Wissenschaft?

Ich bin im Lenkungsausschuss für Bioethik des Europarates, mit Delegationen aus 45 Nationen. Dort sucht man gemeinsame Maßstäbe zur Rechtsharmonisierung. Dabei schöpft man aus Missbrauchserfahrungen und man knüpft an starke gemeinsame Positionen an, wie die Menschenrechtskonvention von 1950. Man hört genau zu, was Wissenschaftler über Risiken sagen. Aber außerdem spielen Intuitionen in der öffentlichen Debatte eine Rolle: etwa wenn Menschen vor Möglichkeiten der Intensivmedizin zurückschrecken, die sie in Anspruch nehmen, der sie sich aber nicht ausliefern wollen. John Rawls nennt das die Methode des Überlegungsgleichgewichts: dass ich von den Intuitionen aller Betroffenen ausgehe und von dort auf die Prinzipien und Gründe reflektiere und diese umgekehrt prüfe an den Intuitionen.

Am Schluss muss das differenzierte Bild dann doch in eine grobe Mehrheitsentscheidung übersetzt werden.

Beim Thema Organtransplantation gab es schon früh eine Übereinstimmung zum Spenden von Organen. Die Kirchen stimmten zu, auch viele Verbände. Dann kam nach einiger Zeit das Thema ganz kontrovers wieder hoch. Nachdem der Bundestag sich damit befasst hatte, der Gesetzesentwurf mehrfach verändert wurde, fällte man schließlich eine differenzierte Entscheidung, nach der sich die Wogen glätteten.

Manchmal wird erst eine Sau durchs Dorf getrieben und dann schafft man, in der Phase der Aufmerksamkeits-Erschlaffung, Tatsachen.

Aber wenn das Thema den Menschen nahe geht, rächt sich eine Übertölpelung: Die Diskussion kommt wieder. Doch gibt es viele Gebiete, auf denen wir keine Entscheidung erreicht haben. Zum Beispiel das Gendiagnostik-Gesetz. Dürfen Resultate von Gentests am Arbeitsmarkt oder beim Versicherungsschutz verwendet werden? Die letzte Enquete-Kommission sagte: „Kein Gebrauch am Arbeitsplatz.“ Der Nationale Ethikrat empfahl bei Lebenszeit-Beamten eine differenzierte Lösung. Das muss demnächst der Bundestag entscheiden. Auch die Fortpflanzungsmedizin bedarf eines Gesetzes: Soll die Eispende erlaubt werden? Wer ist bei bestimmten Verfahren Vater beziehungsweise Mutter? Die moderne Reproduktionsmedizin kann ja ein Kind mit sechs Elternteilen entstehen lassen.

Diese bioethische Debatte berührt die Wertedebatte, bei der auch Autoren wie Peter Hahne oder Ulrich Wickert populär mitmischen. Worum geht es da eigentlich?

Um Suche nach Orientierung. Intensiver als vielleicht unsere Nachbarnationen erleben wir, dass eingelebte Muster fraglich geworden sind. Uns machen die Brüche in der eigenen Geschichte sensibler und unsicherer. Als ich auf einer englischen Konferenz auf Gefahren der Eugenik hinwies, die aus genetischen Tests erwachsen, erhielt ich die Antwort: Das macht man doch nicht. Das würde ein Deutscher nicht so leicht sagen können.

Die Ulrich-Wickert-Ebene: Man tut das nicht.

Besonders schwer fällt die Entscheidung, was „man“ nicht tut, wenn man vor völlig neuen Handlungsmöglichkeiten steht. Welche Regel greift nun? Die Ethik als philosophische Disziplin ist aus solchen Krisen der Moral erst entstanden. Denn wenn der Rekurs auf das „man“ nicht weiterhilft, führt – wie bei Sokrates oder später bei Kant – nur die ethische Reflexion auf die Prinzipien weiter. Diese Herausforderung der Ethik erleben wir zurzeit.

Ihre Stiftungsprofessur, benannt nach dem Religionsphilosophen Romano Guardini, ist ein Lehrstuhl „für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung“. Von welchem Punkt schauen Sie als Priester und Philosoph auf die Welt?

Ich verstehe wie Guardini „katholisch“ im Ursprungssinn des „Umfassenden“; dazu gehört Auseinandersetzung mit der Philosophie und den Naturwissenschaften, das Gespräch zwischen Theologie und Philosophie, zwischen Glauben und Vernunft. In eindrucksvoller Form ist dies im Mittelalter geschehen, in dem die Theologie all das in sich aufzunehmen versuchte, was die Vernunft an Wahrem erkannte.

In Ihrer wissenschaftlichen Biografie stoßen Seinslehre und Bioethik, Mittelalter und 21. Jahrhundert aufeinander.

Die Verbindung zwischen Mittelalter und Bioethik heißt für mich vor allem „Aristoteles“. Er hat sich in einer inspirierenden Weise mit der Philosophie des Lebendigen beschäftigt. Seine Ethik bezieht sich auf die Natur des Menschen.

Nun war die Aristoteles-Rezeption im Mittelalter ja bereits eine interkulturelle Übersetzung aus der Antike.

Ja, das lateinische Mittelalter hat die Antike kennen gelernt über die arabischen und jüdischen Philosophen: Man musste unterscheiden lernen zwischen spezifischen Voraussetzungen kultureller und religiöser Art und der universalen Gültigkeit bestimmter Sätze. Das hat zur Entwicklung einer hohen Reflexionskultur beigetragen. Es gibt die These von Benjamin Nelson, die eigentliche Umbruchzeit sei das zwölfte Jahrhundert: Weil damals aus dem Wissenwollen um des Glaubens willen das Wissenwollen um des Wissens willen wird. Ihre positive Haltung zur Vernunft hat die mittelalterliche Theologie fähig gemacht, sich auf die Bandbreite der Wissenschaften einzulassen, im Unterschied zur östlichen orthodoxen Theologie, die den Schritt von der symbol- und bildbestimmten Theologie zur Theologie der Begriffe und Argumente so nicht getan hat.

Verläuft das Schicksal des orientalischen Christentums hier parallel mit dem nichtchristlichen Orient, der die Aufklärung nachholen müsste?

Judentum und Islam waren dem Christentum in der Öffnung für die antike Vernunftkultur zunächst weit voraus. Die Frage ist eher, warum die islamische Welt nicht in der Neuzeit daran festgehalten hat. Zum Teil lässt sich dies auch für die jüdische Tradition fragen, die erst im 19./20. Jahrhundert den Schritt in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe getan hat. Auch im Islam wären Anknüpfungen an eine im Mittelalter hoch entwickelte Reflexionskultur möglich. Bei mir ist eine Dissertation entstanden, in der die islamische Autorin zeigt, dass in der Koraninterpretation der bis heute nicht erloschenen mittelalterlichen Schule der Mutakallimun Äquivalente zu Gedanken von Menschenwürde und Menschenrechten zu finden sind.

Sie haben fast immer in katholischen Städten gelebt: Wie heidnisch erscheint Ihnen nun Berlin?

Seit meiner ersten Berliner Zeit in den 80er Jahren sind die christlichen Konfessionen enger zusammengerückt. Vielleicht auch, weil sie sich in der Minderheit erfahren. Theologie war immer am stärksten, wenn sie am meisten herausgefordert wurde.

In der Minderheit zu sein schafft Angst vor dem Identitätsverlust. Aber gestritten wird ja derzeit auch um die Identität der Mehrheitsgesellschaft. Worum geht es, wenn Sie das Modewort Identität untersuchen?

Mit der Vorlesung „Person, Identität, Gewissen“ habe ich drei Gedankenstränge zusammengeführt: den in der Antike sich entwickelnden Personbegriff, das Erwachen des Gewissens im Mittelalter und den die moderne Diskussion bestimmenden Begriff Identität. Es kam darauf an zu zeigen, dass ich mich selbst nur über andere und anderes zu finden vermag. Selbstverwirklichung gelingt, wenn es ein als vernünftig erfahrenes Allgemeines gibt, mit dem ich mich zu identifizieren vermag: wie Michael Theunissen formuliert hat.

Jetzt setzen Sie das Thema mit dem evangelischen Kollegen Richard Schröder fort.

In unserem Projekt „Vom drohenden Verlust des Gewissens“ fragen wir, in welcher Weise das Gewissen noch eine Instanz darstellt, ob es nur für eine beliebige Standpunkthaftigkeit steht: „Das ist halt mein Gewissen.“ Oder dafür, dass man sagt: Ich habe mich an das gebunden, was ich als das verpflichtend Gute erkenne. Wir haben zurzeit eine Konjunktur der Berufung auf das Gewissen und eine Erosion seiner Inhalte. Bei allem geht es darum, ob das Menschsein mehr bedeutet als bestimmte Rollen zu spielen.

Die Fragen stellte Thomas Lackmann.

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