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Gesundheit: Frauen denken anders, Männer auch

Systematik gegen Gefühl: Schon als Babys ticken Jungs anders als Mädchen

Mathematik oder Menschen – was ist komplizierter? Hängt ganz davon ab, ob Sie eher ein „S-Hirn“ oder ein „E-Hirn“ haben. Das eine ist ein Experte im systematischen Denken, das andere erfasst die Welt über Einfühlungsvermögen.

Da wäre zum Beispiel der Mathematikprofessor Richard Borcherds. Extremes S-Hirn. Seine Spezialität: Schneeflocken in 196883 Dimensionen. Borcherds „Monster“ (wie man die Flocken im Fachjargon bezeichnet) sind dermaßen kompliziert, dass sogar Kollegen keine Ahnung haben, worum es dabei genau geht.

In einer Sache aber sind sich alle einig: Borcherds ist ein Genie. 1998 erhielt er für die Flocken in seinem Kopf die „Fields-Medaille“ – die höchste Auszeichnung, die es für Mathematiker gibt.

Doch so leicht dem Meister der Mathematik seine mentalen Monster fallen, so schwer tut er sich mit Menschen. Schon eine einfache Tafelrunde ist für ihn eine Tortur. Der Wirrwarr von Worten, geheimnisvolle Gesten, Blicke, die etwas signalisieren oder verlangen – nur was? Plötzlich lachen alle, aber warum? Menschen sind dem Mathematiker einfach eine Dimension zu hoch.

Soziales – das ist eher etwas für diejenigen mit einem E-Hirn. Mühelos versetzen sie sich in Andere hinein, spüren ihre Absichten, Wünsche, verborgenen Gefühle. Der Prototyp des E-Hirns: die hocheinfühlsame Psychotherapeutin, die am Textverarbeitungsprogramm ihres Computers verzweifelt.

Systematik oder Empathie – für den britischen Forscher Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge sind das die zwei extremen Enden eines Kontinuums, in dem wir uns alle wiederfinden können. In dem neuen Buch „Vom ersten Tag an anders“ (Walter Verlag, 2004) führt der Psychologe seine Theorie aus.

Die pikante Kernthese: Männer haben eher ein S-Hirn, Frauen ein E-Hirn. „Das weibliche Hirn“, behauptet Baron-Cohen, „ist so verdrahtet, dass es überwiegend auf Empathie ausgerichtet ist.“ Das Männerhirn dagegen richte sich von Natur aus auf leblose Systeme. Dabei gehe das eine auf Kosten des anderen, sprich: Manche von uns, meist Männer, sind grandiose Systematiker und zugleich miserable Empathiker. Andere, vor allem Frauen, sind extrem einfühlsam, dafür aber, wie der Psychologe es formuliert, „systemblind“.

„Das alles klingt nach einem fürchterlichen Klischee“, kommentiert Onur Güntürkün, Hirnforscher an der Uni Bochum, der das Buch seines berühmten britischen Kollegen auf dem Schreibtisch liegen hat. „Und doch ist daran etwas Wahres.“

Den ersten Hinweis der Hirnforschung, der für die Spekulationen des Cambridger Forschers spricht, erbrachte das amerikanische Neurologen-Ehepaar Ruben und Raquel Gur von der Universität von Pennsylvania. Mit einem Hirnscanner registrierten sie den Energieverbrauch im Kopf von Männern und Frauen, während diese auf die Gesichter von Schauspielern blickten. Dabei sollten sie beurteilen, ob den Schauspielern Trauer oder Freude ins Gesicht geschrieben stand.

„Ich bekam eine Gänsehaut“

Es zeigte sich: Frauen gelang es nicht nur besser, die Gefühle aus den Gesichtern zu lesen, ihr Hirn muss dafür auch weniger hart arbeiten. Die graue Masse des Mannes schuftete geradezu auf Hochtouren – und kam doch nicht an die Leistung der Frauen heran.

Auf Grund dieser und weiterer Befunde zweifelt in der Fachwelt kaum noch jemand daran, dass Männer und Frauen in vieler Hinsicht anders ticken.

Der Psychologe Baron-Cohen aber geht noch einen Schritt weiter. Er meint: Die Kluft zwischen den Geschlechtern ist nicht etwa eine Sache der Erziehung – sie zeigt sich von Geburt an.

Um die Hypothese zu testen, begaben sich zwei seiner Studentinnen Tag für Tag in das Rosie Maternity Hospital in Cambridge. Dort beobachteten sie mehr als 100 Säuglinge, die sich alle durch eins auszeichneten: Sie waren genau einen Tag alt.

Kaum auf der Welt, wurden die Babys bereits in den Dienst der Wissenschaft gestellt. Die Forscherinnen filmten die Kleinkinder, wobei sie ihnen entweder ein Gesicht oder ein rundes Mobile zeigten, das aus zusammengewürfelten Bausteinen eines Gesichts bestand.

Zurück im Labor, werteten die Wissenschaftlerinnen das Videomaterial aus. Das verblüffende Resultat: Die Mädchen sahen durchgehend länger auf das Gesicht, während die Jungs eine offenkundige Faszination für das Mobile hatten – und das an ihrem allerersten Lebenstag. „Dieser Unterschied bei Neugeborenen“, stellt Baron-Cohen nüchtern fest, „deckt sich mit einem Muster, das man durch das ganze Leben hindurch beobachten kann.“

Die Wurzeln dafür, davon ist der Psychologe überzeugt, werden schon lange vor der Geburt gelegt: im Mutterleib. Die Hauptrolle spielt dabei offenbar das männliche Sexualhormon Testosteron. Testosteron trimmt das Hirn regelrecht in Richtung „S“.

So entnahm Baron-Cohen von mehreren Müttern Fruchtwasserproben und analysierte das darin enthaltene Testosteron, das vom Fötus stammt. Monate später, als die Kinder bis zu zwei Jahre alt waren, kontaktierte der Forscher die Mütter wieder. Es zeigte sich: Je höher der pränatale Testosteronspiegel des Fötus gewesen war, desto weniger stellte das spätere Kind Blickkontakt her und desto kleiner fiel sein Wortschatz aus. „Als wir die Ergebnisse erhielten“, berichtet der Forscher, „bekam ich eine richtige Gänsehaut, als ich mir vorstellte, dass ein paar Tropfen mehr oder weniger von dieser winzigen chemischen Substanz unsere Soziabilität oder unsere sprachlichen Fähigkeiten beeinflussen können.“

Augenkontakt ist einer der entscheidenden Schlüssel zum Einfühlungsvermögen, die Sprache ein anderer. In den Augen und im Gesicht können wir lesen, was andere Menschen fühlen. Und was wir nicht sehen, lässt sich aus der Sprache heraushören, aus der Intonation, natürlich auch aus dem Inhalt. Studien zeigen, dass Frauen Männern in allen diesen Punkten überlegen sind: Sie sind eindeutig die besseren Gedanken- und Gefühlsdeuter.

Und doch, das Schema S und E ist „eben nur ein Schema, und ich weiß nicht, ob es ganz richtig ist“, sagt der Hirnforscher Güntürkün.

Kaffeetasse im Kopf

Männer beispielsweise schneiden bei vielen räumlich-visuellen Aufgaben besser ab als Frauen.

Beispiel: Zeigt man uns zwei Bilder einer Kaffeetasse, jedoch aus unterschiedlicher Perspektive, und fragt man uns, ob es sich um die gleichen Tassen handelt, so muss man für diese Aufgabe die eine Tasse vor dem geistigen Auge in die Perspektive der anderen Tasse rücken – systematisch, bis man merkt, ob sich die Tassen gleichen. Männern gelingt das Tassendrehen im Kopf meist schneller als Frauen.

Umgekehrt aber schlagen die Frauen die Männer, sobald es darum geht, Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen. Beispiel: Was ist die Hauptstadt der Türkei? „Stellen Sie diese Frage mal in einer Runde von Männern und Frauen“, sagt Güntürkün. „Sie werden feststellen, dass die Frauen eher mit der richtigen Antwort aufwarten.“ Eine Fähigkeit, die sich auf ihr phänomenales Einfühlungsvermögen, ihr „E-Hirn“ zurückführen lässt? Wohl kaum. „Bei diesem Suchprozess im Gedächtnis geht es darum, alle irrelevanten Informationen auszublenden, bis man den Treffer gefunden hat – und zwar systematisch“, sagt Güntürkün.

Fazit: Systematik ist nicht etwas, worauf nur Männer abfahren. Auch Frauen schätzen die S-Klasse.

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