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© ddp

Frühgeborene: Ein Häufchen Glück

Wenn Babys bei ihrer Geburt so unterentwickelt sind, dass sie nur verkabelt im Brutkasten eine Chance haben, ist das ein Schock. An der Charité unterstützen Psychologen die Eltern Frühgeborener – ein Projekt, das jetzt ausgezeichnet wurde.

Dass der Start ins Leben für Luke und Livia nicht leicht werden würde, wussten ihre Eltern schon, bevor die Zwillinge geboren waren.

Mit dem Ultraschall hatte der Frauenarzt im Mutterleib gesehen, dass Luke unter einer Omphalozele litt – einer auch Nabelschnurbruch genannten Fehlbildung, bei der die Bauchorgane des Ungeborenen bis in die Nabelschnur hineinreichen. Damit stand fest, dass Luke gleich nach der Geburt würde operiert werden müssen. So wurde die Schwangere aus Brandenburg von ihrem Arzt ans Perinatalzentrum der Charité überwiesen, wo man mit Mehrlingsschwangerschaften und Frühgeburten viel Erfahrung hat. Dort kamen die Zwillinge im Mai in der 28. Woche zur Welt, per Kaiserschnitt. Andere Babys haben 37 bis 40 Wochen im Bauch der Mutter, um sich zu entwickeln. Bei der Geburt wiegen sie etwa dreieinhalb Kilo. Luke wog gerade einmal 970 Gramm, seine Schwester 820.

Livia und Luke sind zwei von 50 000 Babys, die jedes Jahr in Deutschland zu früh und zu leicht auf die Welt kommen. Die großen Fortschritte, die die Neugeborenenmedizin in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, haben dazu geführt, dass auch die Winzlinge unter ihnen eine Chance haben. Der Preis: Das Leben beginnt auf der Intensivstation. Wie bei Luke und Livia.

Oft fühlen sich Eltern in so einer Situation alleine gelassen und ratlos. Hat das Kind eine Chance zu überleben? Welche Schuld tragen wir daran, dass es so unreif auf die Welt gekommen ist? Dürfen wir es anfassen? Wann wird es aussehen wie ein „richtiges“ Baby? „70 Prozent der Eltern sind auf die Frühgeburt nicht vorbereitet“, sagt die Hamburger Psychologin Susanne Hommel. Wenn sie vorher an ihr Kind gedacht haben, stellten sie sich einen pausbäckigen Säugling vor. „Nun sind sie mit einer erschreckenden Abweichung konfrontiert.“ Hommel betreut Eltern im Rahmen des Frühchenprojekts des Altonaer Krankenhauses. Ihre Stelle wird von der Deutschen Kinderhilfe Direkt (www.dkhd.de) aus Spendengeldern finanziert – vier weitere Psychologinnen und Sozialpädagoginnen arbeiten in München, Leipzig und an der Berliner Charité. Das Frühchenprojekt, das von Berlin aus von Suzanne Kruschwitz koordiniert wird, wurde gerade im Rahmen der Standortinitiative „Deutschland – Land der Ideen“ ausgezeichnet.

Die wichtigste Aufgabe der Psychologen und Sozialpädagogen ist das Gespräch mit den Eltern. Erklären, zuhören, beruhigen. Viele Frühgeborene verbringen Monate in der Klinik, sind an Geräte angeschlossen, durchleben Krisen, werden vielleicht bleibende Behinderungen davontragen. Die Mitarbeiter des Frühchenprojekts helfen den Eltern, trotz all dieser Schwierigkeiten eine Bindung zu ihrem Kind herzustellen. Sie kümmern sich um den Kontakt zu sozialpädiatrischen Zentren, in denen die Behandlung nach der Entlassung weitergeht. Und sie begleiten die Mütter und Väter wenn nötig sogar zu Behörden. Um die Eltern von 803 Frühchen konnten sie sich bundesweit im letzten Jahr kümmern – „ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagte Kruschwitz bei einer Fachtagung anlässlich der Preisverleihung. Eigentlich sollten Eltern aller sehr kleinen Frühchen diesen Beistand bekommen, und zwar ganz normal auf Kosten der Krankenkassen, forderten Experten. Das sei ein weiteres Argument dafür, die Betreuung auf wenige Perinatalzentren zu konzentrieren, wo solche Angebote vorgehalten werden könnten, sagte der scheidende Charité-Neugeborenenmediziner Roland Wauer. Friedbert Pflüger, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und selbst Vater eines Frühchens, zeigte sich dort spontan von der Idee überzeugt. „Lassen Sie uns einen Brief an Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verfassen“, schlug er vor.

Bei der psychosozialen Betreuung der Eltern Frühgeborener geht es nicht zuletzt um Kinderschutz. Als Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer Amtszeit über ein Frühwarnsystem zum Schutz vor Misshandlungen nachdachte, wurde niedriges Geburtsgewicht als eines der Kriterien genannt. Kinder, die bei der Geburt wenig wiegen – darunter sind naturgemäß besonders viele Frühchen –, haben nicht nur häufiger mit motorischen Störungen, einer mangelnden Konzentrationsfähigkeit und Lernschwierigkeiten zu kämpfen. Sie sind auch besonders gefährdet, körperlich misshandelt zu werden. Das zeigt eine Studie aus dem Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, für die fast 400 Kindern zwölf Jahre lang begleitet wurden. Viele Kinder, die mit wenig Gewicht auf die Welt kommen, haben demnach mit einem „Konglomerat von Risiken“ zu kämpfen. Ihre Mütter sind überdurchschnittlich oft Raucherinnen, haben Drogenprobleme oder chronische Krankheiten, sind besonders jung und leben häufig in Armut. Dazu kommt – auch für die Familien, auf die das alles nicht zutrifft – die Schwierigkeit, eine Bindung zu dem verkabelten Wesen aufzubauen. „Frühgeborene machen es den Eltern mit ihren Reaktionen zudem oft nicht leicht“, sagt Psychologin Hommel. Denn unter ihnen sind besonders viele Schreibabys. „Die Eltern von Frühchen brauchen Unterstützung bei der Ausübung ihrer Elternschaft“, sagt auch Gerhard Jorch, Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie der Universität Magdeburg. Und zwar auch dann noch, wenn die Familie zu Hause den Alltag zu bewältigen hat. „Frühgeborene Zwillinge machen in der ersten Zeit so viel Arbeit wie sechs Kinder“, sagt Jorch.

Das wissen inzwischen auch die Eltern von Livia und Luke. Ihre kleine Tochter wurde schon Ende Juli aus der Klinik entlassen – ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eigentlich hätte geboren werden sollen. Luke konnte nach mehreren Operationen erst jetzt im September nach Hause. Noch wird er teilweise durch eine Magensonde ernährt, dabei hilft ein ambulanter Pflegedienst. Die Eltern freuen sich, dass er inzwischen immer mehr Nahrung aus dem Fläschchen zu sich nimmt. So kann er hoffentlich bald mit seiner Schwester mithalten.

Adelheid Müller-Lissner

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