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Gesundheit: Für einen Moment vollkommen wehrlos

Bei Rheuma greift das Immunsystem den eigenen Körper an. Jetzt gibt es eine neue Therapie – aber sie ist riskant

Adelheid Müller-Lissner

Es sind erst zehn Patienten. Sie litten an schweren, lebensbedrohlichen Formen von Rheuma oder einer verwandten Autoimmunkrankheit. Und doch schlug die Therapie an. Eine Überraschung, auch für Andreas Radbruch, der sie maßgeblich mit ersann, denn „noch vor wenigen Jahren wurde das als Zukunftsmusik angesehen“, wie Radbruch letzte Woche auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie in Berlin berichtete.

Radbruch, Immunbiologe und Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums, das vor einiger Zeit einen Neubau auf dem Campus Mitte der Charité bezogen hat, entwickelte eine neuartige Stammzelltherapie. Das Prinzip besteht darin, das Immunsystem der Patienten – das bei Autoimmunerkrankungen seine Waffen nicht mehr nur auf fremde Eindringlinge, sondern auch auf körpereigene Zellen richtet –, vollkommen zu erneuern. Die selbstzerstörerischen Aktivitäten sollen gleichsam ausgespült werden, so dass sich das Immunsystem wieder auf die echten, äußeren Feinde konzentrieren kann.

Der Ablauf der Therapie gleicht dem einer Chemotherapie bei Krebs. In einem ersten Schritt werden mit Hilfe von Wachstumsfaktoren die Stammzellen des eigenen Körpers mobilisiert und anschließend aus dem Blut herausgelesen. Ein besonderes Zellsortiergerät, das die Arbeitsgruppe von Radbruch entwickelt hat, macht es möglich, dabei eine bisher nicht gekannte Reinheit der Zellen zu erreichen. Die Stammzellen werden nun eingefroren. In einem zweiten Schritt zerstört man die Zellen des Immunsystems durch die hochwirksamen Zellgifte – ein kritischer Moment. Und dann werden die tiefgefrorenen Stammzellen dem Kranken als „Startkapital“ für den Aufbau eines neuen Immunsystems zurückgegeben.

Kurze Zeit keine Abwehrkräfte

Die Behandlung ist riskant, denn einerseits kann die Vernichtung des alten Abwehrsystems misslingen. Andererseits ist der Patient gerade auch dann gefährdet, wenn die Zerstörung gelingt: Er hat nun für eine Zeit kein Immunsystem und wäre Infektionen somit wehrlos ausgeliefert. Um diese Anfälligkeit ein wenig zu mildern, wollen die Forscher den Patienten bei der Behandlung nicht nur die Stammzellen, sondern auch gleich eine bestimmte Gruppe von Immunzellen geben, die als „unschuldig“ gelten: die Gedächtnis-Lymphozyten. Noch ist aber nicht ganz sicher, dass sie wirklich nicht zum „Täterkreis“ gehören.

Das Ergebnis überzeugte vor allem bei den Patienten, die an einer lebensbedrohlichen Form der so genannten systemischen Lupus erythematodes litten. Bei dieser entzündlichen Erkrankung des Bindegewebes, die in der Frühphase oft nur Hautrötungen und Gelenkschmerzen verursacht, kann es im ganzen Körper zu Entzündungen, Ablagerungen von Immunkomplexen und Einschränkungen der Funktion von Organen kommen. „Bei drei der vier Patienten verschwanden die Krankheitszeichen vollständig“, sagt Radbruch. Auch die Blutwerte haben sich normalisiert. Weltweit wurden nun inzwischen mehr als 300 solcher Stammzell-Transplantationen bei schweren Autoimmunkrankheiten gewagt. Bei zwei Drittel der Patienten normalisierte sich das Immunsystem, allerdings oft nur vorübergehend. Andererseits überlebten fast zehn Prozent der Patienten die eingreifende Behandlung nicht.

Sechs Zentren – außer Berlin sind das: Düsseldorf, Erlangen, Freiburg, Hannover und Lübeck/Bad Bramstedt – werden seit zweieinhalb Jahren als „Kompetenznetz Rheuma“ vom Bundesforschungsministerium mit bis zu 2,5 Millionen Euro im Jahr gefördert. Die Stammzelltherapie ist nur ein Beispiel für die vielfältigen Aktivitäten, über die beim Rheumatologie-Kongress berichtet und diskutiert wurde.

Behandlung ja, Heilung nein

Mindestens 1,3 Millionen Menschen leiden in Deutschland an Entzündungen, Schwellungen und Schmerzen der Knochen, Gelenke, Muskeln und Gefäße, die von Medizinern dem „entzündlich-rheumatischen Formenkreis“ zugerechnet werden. In der Grundlagenforschung sind verschiedene Forschungseinrichtungen den Ursachen dieser weit verbreiteten Krankheiten auf der Spur. Sie können inzwischen zwar recht wirkungsvoll behandelt, aber immer noch nicht wirklich geheilt werden. Wenn man herausfinden könnte, was das Immunsystem konkret zum unsinnigen Angriff auf körpereigenes Gewebe treibt, bestünde erstmals die Chance auf Therapien, die das Übel an der Wurzel packen.

Immerhin wurden in den letzten Jahren Botenstoffe identifiziert, die bei den entzündlichen Prozessen, die etwa zur Zerstörung von Knochen und Knorpel führen können, ihre Hand im Spiel haben. Insbesondere mit der Hemmung des Tumornekrosefaktors alpha (TNF alpha) verbinden sich große Hoffnungen.

Die TNF-alpha-Blocker sind seit zwei Jahren für die Therapie zugelassen. Bei der Hälfte der Patienten mit Gelenkentzündungen brachten sie – in Kombination mit der gängigen Basistherapie eingesetzt – deutliche Verbesserungen, wie der amerikanische Rheumatologe Peter Lipsky aus Bethesda auf dem Kongress berichtete.

Bleibt die Frage, warum die neue Therapieform nicht allen hilft. Offensichtlich spielt TNF alpha nicht bei jedem Rheuma-Patienten eine tragende Rolle. „Vielleicht sollten wir jetzt an eine Neuklassifizierung der rheumatischen Erkrankungen denken“, gab Lipsky zu bedenken.

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