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Gesundheit: Gastfreundschaft

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Zu den unvergesslichen Erlebnissen aus meinen Studententagen gehört ein Besuch in einem kleinen arabischen Dorf, genauer gesagt im Wohnzimmer einer Großfamilie, das auch weite Teile der Verwandtschaft aufgenommen hatte. Nachdem wir einen langen Nachmittag miteinander über Gott und die Welt gesprochen hatten und einen Tee nach dem anderen getrunken hatten, stellte sich irgendwann sehr spät die Frage nach dem Abendessen. Reich war die Familie ganz gewiss nicht, ihr Haus äußerst kärglich eingerichtet. Aber man wollte es sich nicht nehmen lassen, aus einer ziemlich leeren Tiefkühltruhe einen eingefrorenen Hammel zuzubereiten, so heftig der Gast auch abwehrte und bat, das Tier für eine wirklich bedeutsame Familienfeier aufzuheben. Alle solche Einwände waren sinnlos, das Fleisch wurde zubereitet und mit viel Reis auf Platten in die Mitte des Raumes gestellt. Spät nach Mitternacht kam es noch besser: Das gastgebende Ehepaar war nicht davon abzubringen, für den Gast ihr eigenes Schlafzimmer zu räumen, obwohl der mit einem Schlafsack gekommen war. Sie selbst legten sich in einer abgeschabten Decke auf den kalten Wohnzimmerboden.

Orientalische Gastfreundschaft ist sprichwörtlich und unterscheidet sich deutlich von dem, was hierzulande üblich ist. Ich beispielsweise würde mein Schlafzimmer nicht für jeden Studenten räumen. Und hätten wir einen halben Hammel in der Tiefkühltruhe, würde ich ihn auch nicht für den ersten besten Gast opfern. Aber mit solchen Zögerlichkeiten dokumentiere ich natürlich nur, dass ich ein typischer Repräsentant der mitteleuropäischen Schwundstufe der Gastfreundschaft bin.

Das war in unseren Breitengraden durchaus einmal anders. Aber schon Anfang des letzten Jahrhunderts heißt es in einem Benimmbuch: „Es giebt Familien, die thöricht genug sind, dem Gast Ruhe und Behaglichkeit zu opfern, seinetwegen die Mahlzeiten zu verschieben, oder gar die Rücksicht so weit zu treiben, daß sie sich in der Arbeit stören lassen, die Schlafensstunde verlegen und gesundheitlich und pekuniär für den Gast große Opfer bringen. Das ist nicht die rechte Gastfreundschaft.“ Wie anders formuliert doch Benedikt von Nursia in seiner Regel, die bis auf den heutigen Tag das Leben in vielen Klöstern ordnet: „Alle Gäste, die zum Kloster kommen, sollen wie Christus aufgenommen werden.“ Vielleicht sollten wir hierzulande doch wieder etwas häufiger unseren Gästen Ruhe und Behaglichkeit opfern, uns bei der Arbeit stören lassen und die Schlafensstunde verlegen. Es ist immerhin nicht ausgeschlossen, dass wir damit unseren Gästen und darüber hinaus uns selbst unvergessliche Stunden schenken.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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