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Gesundheit: Genforschung: Das Gen, das einem die Sprache verschlägt

Die Familie Borchert* mit dem seltsamen Syndrom war Forschern schon länger ein Rätsel. Eine Familie, die über Generationen ein Problem verfolgt: die Sprache.

Die Familie Borchert* mit dem seltsamen Syndrom war Forschern schon länger ein Rätsel. Eine Familie, die über Generationen ein Problem verfolgt: die Sprache. Die Familienmitglieder sprechen, "als koste sie jeder Laut ihre Seele", wie es ein Wissenschaftler formuliert hat. Obwohl sie über einen normalen IQ verfügen, fällt es ihnen schwer, ihre Lippen zu kontrollieren, ihre Zunge, Wörter zu bilden. Auch an der Grammatik hapert es. "Für einen normalen Menschen ist ihre Sprache praktisch nicht zu verstehen", sagt der Genetiker Anthony Monaco von der Universität von Oxford.

Wie man nun entdeckte, verursacht ein einziges defektes Gen die Sprachstörung. Damit hat man das erste Gen gefunden, das sich eindeutig mit Sprache in Zusammenhang bringen lässt. Das Gen schaltet andere Erbmerkmale ein und aus - somit könnte es der Schlüssel zu einem Netzwerk von Genen sein, die für das Lernen und den Gebrauch einer Sprache entscheidend sind.

Die Entdeckung ist ein Meilenstein für eine Forschungsrichtung, die den Einfluss der Gene auf unser Verhalten untersucht. Andererseits hat man nur ein Puzzle-Stück gefunden.

Und damit wird auch die Frage wieder auftauchen, inwiefern Sprache überhaupt angeboren ist. Und: Ist Sprache ein Teil unserer generellen Intelligenz oder gibt es Hirnstrukturen, die sich auf Sprache spezialisiert haben? Vierzig Jahre nachdem der amerikanische Theoretiker Noam Chomsky eine "universelle Grammatik" postulierte, die uns angeboren ist, streiten sich die Geister immer noch über dieses Grundproblem.

Die Familie Borchert wurde 1990 zuerst beschrieben. Monacos Team machte sich auf die Suche nach dem Gen für die Sprachstörung. 1998 gelang es, das Gen auf einen Abschnitt von 70 Erbmerkmalen auf Chromosom 7 einzugrenzen. Ein Jahr später folgte der Durchbruch. Damals tauchte der Patient Niels N.* auf. Er hatte ein ähnliches Sprachproblem wie die Borcherts, obwohl er mit der Familie nicht verwandt war. Ein Vergleich des Erbguts filterte dann das entscheidende Gen heraus.

Das Gen heißt FOXP2. Es gehört zu einer Gruppe von Genen, welche die Aktivität anderer Gene steuert, indem sie Eiweiße bilden, die sich an das Erbgut heften. Die Genmutation bei der Familie Borchert und bei Niels N. hat zur Folge, dass der Abschnitt des Eiweißmoleküls, der an das Erbgut bindet, gestört ist. "Wir müssen nun verstehen, wie Gene zu Hirnstrukturen führen und wie Hirnstrukturen zu Sprache führen", sagt Martin Nowak, der die Evolution der Sprache am Institute for Advanced Study in Princeton im US-Bundesstaat New Jersey studiert. Doch dieses Verständnis stehe erst am Anfang und brauche noch "50 bis 100 Jahre".

Das Netzwerk der Sprachgene kann man sich wie einen Baum vorstellen. Gene wie FOXP2 sind der Stamm: sägt man sie ab, sind viele Aspekte der Sprache dahin. Andere Gene sind für die Feinarbeit zuständig. Sind sie geschädigt, wäre das so, als hätte man dem Baum ein paar Äste abgebrochen.

So gibt es Kinder, die kein Problem mit dem Sprachverständnis haben. Sie sind aber außer Stande, Grammatik zu beherrschen. Typisch sind Fehler der Zeitform: "Gestern, ich springe auf den Zaun", würde so ein Kind etwa sagen. "Sie entwickeln kein intuitives Gefühl für die Regeln der Sprache", sagt die Psychologin Heather van der Lely vom University College London. "Sie müssen immer innehalten und bewusst überlegen." Für die Forscherin sind sie ein Hinweis darauf, dass es spezialisierte Grammatikstrukturen im Hirn gibt - und Gene, die die Entwicklung dieser Strukturen steuern.

Dem stimmt aber nicht jeder zu. "Es fällt mir schwer, zu glauben, dass wir Gene haben, die im Hirn Sprache und nur Sprache beeinflussen", sagt Bruce Tomblin, Sprachforscher an der Universität von Iowa im amerikanischen Iowa City. Tomblin denkt, dass Sprache Teil eines generellen kognitiven Mechanismus ist, von denen manche für Sprache wichtiger sind als andere.

Eine Synthese bildet Robert Plomin, Verhaltensgenetiker an Institut für Psychiatrie in London. Sprachentwicklung werde vermutlich von "vielen, vielen Genen gesteuert, alle mit einer kleinen Wirkung".

Plomin hat die Sprachentwicklung von 16 000 Zwillingen untersucht. Es zeigte sich, das Sprachstörungen tatsächlich zu einem Großteil auf Genetik zurückzuführen sind. Allerdings ist es schwer, einzelne Gene ausfindig zu machen: "Ich bin optimistisch, aber der Fortschritt wird langsamer vonstatten gehen als wir lange gedacht haben."

Neue Aufschlüsse über die Genetik der Sprache könnte das Studium besonders Sprachbegabter geben. Bislang wurde dieser Forschungszweig vernachlässigt, obwohl "eine erstaunliche Anzahl" von Linguisten von Eltern stammen, die selbst Linguisten waren, wie Sprachforscherin Karin Stromswold von der Rutgers Universität in New Jersey sagt. Besonders interessant wären Sprachbegabte, deren Hirne in anderen Bereichen nicht so gut arbeiten. "Beispielsweise Linguisten, die nicht mit ihrem Sparbuch umgehen können."

John Whitfield

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