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Gesundheit: Genie in Fesseln

Neurologen sagen: Es gibt Kräfte im Kopf, die unsere künstlerische Entwicklung hemmen

„Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Wahnsinnigen ist, dass ich nicht wahnsinnig bin.“ Salvador Dalí

S ie war keine schlechte Malerin – aber sie war auch nicht besonders gut. Kein Genie, eher Durchschnitt. Solide Ausbildung, Master’s Degree in Fine Arts, anschließend Kunstlehrerin an einer High-School. Am liebsten malte sie Landschaften, Aquarelle im westlichen Stil, oder sie versuchte sich in klassisch- östlichen Pinselgemälden.

Die Wende kam schleichend. Zunehmend fiel es ihr schwer, die Werke ihrer Schüler zu beurteilen. Auch den Unterricht vorzubereiten gelang ihr immer weniger gut. Sie verlor die Kontrolle über die Klasse. Als sie sich schließlich nicht mehr die Namen ihrer Schüler merken konnte, zog sie die Konsequenz und ließ sich vom Neurologen untersuchen. Die Diagnose: Zellschwund im vorderen Hirnbereich und in den Schläfenlappen – eine seltene Form des geistigen Verfalls. Demenz.

Nun geschah etwas Eigentümliches. Die Krankheit nahm ihren Lauf, auch die sprachlichen Fähigkeiten der Frau fielen der Demenz allmählich zum Opfer. „Ihre Gemälden aber wurden wilder und freier und origineller“, sagt Bruce Miller, Neurologe an der Universität von Kalifornien in San Francisco. Miller hat die Kunstlehrerin beobachtet und beschreibt ihre Geschichte in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Neurology“. Wie sie anfängt, den westlichen mit dem östlichen Stil zu kombinieren. Wie sie eine „außerordentliche Serie von Gemälden“ schafft, darunter zwölf Männerakte. Miller: „Es war klar, dass sie befreit war von den formalen Zwängen ihrer Ausbildung.“ Ihre Bilder, fortan nicht mehr realistisch, bekamen einen „intensiv-emotionalen, impressionistischen Stil“.

Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass der Abbau von Hirnzellen die Kreativität beflügeln kann. Erst bei genauerem Hinsehen ergibt es einen Sinn. So weiß man, dass der vordere Bereich des Gehirns eine hemmende Funktion besitzt. Der Frontallappen hält uns davon ab, jeden Impuls, der in uns auftaucht, auszuleben – wie eine Bremse im Kopf. In diesem Hirnbereich, der auch als „Sitz der Zivilisation“ bezeichnet wird, ist unser ethisches Empfinden angesiedelt. Ein Abbau von Hirnzellen im Frontallappen führt somit zu einer Enthemmung. Vielleicht ist es genau dieser Verlust der inneren Bremse, die aus der Lehrerin eine wahre Künstlerin machte: „Die Fähigkeit, übliche soziale und kognitive Beschränkungen zu überwinden, ist ein Kennzeichen großer Künstler“, kommentiert Miller.

Auch unsere Sprache, die im linken Schläfenlappen angesiedelt ist, kann, glaubt der Neurologe, so dominant sein, dass sie andere Fähigkeiten, etwa bildnerische, unterdrückt. Die Kunstlehrerin ist heute kaum mehr in der Lage zu sprechen – Folge des Zellabbaus im linken Schläfenlappen, wo die Sprache angesiedelt ist. „Die Befreiung von sprachlich dominierten Denkmustern“, sagt Miller, „scheint ein entscheidender Faktor zu sein für das Entstehen künstlerischer Fähigkeiten in solchen Patienten.“

Kunst und Krankheit, Genie und Wahnsinn – dass dieser Zusammenhang mehr ist als ein bloßer Mythos oder eine romantische Idee, bestätigt auch eine neue Studie von Forschern der Universität Stanford in Kalifornien. Die Psychiater Connie Strong und Terence Ketter verglichen darin künstlerisch veranlagte Menschen und manisch-depressive Patienten mit einer Kontrollgruppe. Die Künstlerisch-Begabten waren zu Seminaren wie Produktdesign, kreatives Schreiben und bildende Kunst der Elite-Universität Stanford zugelassen. Der Befund: Die Persönlichkeit und das Temperament der angehenden Künstler glichen viel mehr den manisch-depressiven Patienten als den Personen der Kontrollgruppe – für die Forscher alles andere als ein Zufall. Das Leben manisch-depressiven Patienten besteht aus einer emotionalen Achterbahn: Sie fallen von Gefühlen des Glücks, ja Zuständen der höchsten Euphorie, in denen sie Bäume ausreißen könnten, in tiefste Depressionen. Während der Hochphasen entwickeln sie eine enorme Produktivität, brauchen kaum Schlaf, begeistern ihre Mitmenschen – und schaffen manchmal künstlerische Meisterwerke. Beispiel: Robert Schumann, der während eines Gefühlshochs in den 1840er Jahren seine beste Musik schrieb. In den Phasen der Depression hingegen hörte er ganz auf zu komponieren. Die große „emotionale Bandbreite“ der manisch-depressiven Patienten fördert das künstlerische Schaffen, glaubt Stanford-Psychiaterin Strong.

Neben der Demenz und der Manie scheint es eine weitere neurologische Auffälligkeit zu geben, die mit hoher Begabung einhergehen kann: Autismus.

Howard Potter fiel schon als kleines Kind auf, weil er kaum schlief, sich für nichts interessierte außer für Kalender – und keinem Menschen je direkt in die Augen sah. Eines Tages, beim Mittagessen, beschwerte sich der Junge, nachdem er einen Blick auf den Teller seines Bruder geworfen hatte: „Dunkan hat zwei Erbsen mehr bekommen!“ Die Eltern, zunächst ungläubig, zählten nach und stellten fest: der Junge hatte Recht. Wie Dustin Hoffman im Kinofilm „Rain Man“ ist auch Potter ein Zahlengenie. Wurzel aus 73? Kein Problem: „8,544.“ Doch einen Menschen anlächeln oder eine Flasche Milch beim Tante-Emma- Laden um die Ecke kaufen – das kann Potter nicht. Früher bezeichnete man Autisten wie Potter als „idiots savants“ (wissende Idioten), heute spricht man von „Savants“.

Für die Wissenschaft sind Menschen wie Howard Potter nach wie vor „terra incognita“. Manche Autisten können gar nicht sprechen, andere haben einen ganz normalen IQ – und wieder andere eine Inselbegabung wie Howard Potter, der heute 37 ist und immer noch bei seinen Eltern an der Südküste Englands lebt.

Zwei Dinge scheint allen Autisten dennoch gemeinsam zu sein: Sie nehmen alles wörtlich. Fragt man einem autistischen Menschen beispielsweise, ob er vielleicht das Fenster hinter ihm schließen kann, antwortet er typischerweise: „Ja.“ Und lässt das Fenster offen. Das zweite Merkmal: Autisten haben extreme Schwierigkeiten damit, sich in andere Menschen einzufühlen. Es ist, als würden sie die Menschen als seelenlose Roboter wahrnehmen. Entsprechend schwer fällt es ihnen, Absichten und Motive zu erkennen – das soziale Leben wird zu einem undurchschaubaren, wirren Gestrüpp. Deshalb, vermuten Forscher, flüchten Autisten in die überschaubare Welt der Kalender und Zahlen – und entwickeln seltene Einzelbegabungen.

Der Neurologe Miller hat die Hirnaktivität von Demenzpatienten wie die Kunstlehrerin mit einem „Savant“ verglichen – es zeigten sich verblüffende Ähnlichkeiten. Forscher versuchen nun, auch Normalsterblichen mit den erstaunlichen Fähigkeiten von Savants und Künstlern zu segnen, in dem sie unser Hirn kurzfristig so aktivieren wie ihres.

So hielt die Psychologin Robyn Louise Young von der Flinders Universität im australischen Adelaide 17 Studenten einen hemmenden Magnetstimulator an den Kopf, und zwar an der Stelle, wo auch bei Millers Kunstlehrerin der Zellabbau stattgefunden hatte – an den linken Schläfenlappen. Einige der Probanden schienen sich tatsächlich in Savants zu verwandeln. Ein Student zeichnete plötzlich Tiere so schön wie Franz Marc.

Als die Wissenschaftlerin den Magnetstimulator ausschaltete, brachte der Sekundenkünstler nur noch hässliches Gekrakel zu Papier.

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