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Gesundheit: Geraubtes Jahrhundert

Wann ging Santorin unter? Der Ast eines Olivenbaums bringt die antike Zeitrechnung durcheinander

Es ist nur ein Stück Holz. Aber was für eins! Ein 3600 Jahre alter, ein Meter langer und 15 Zentimeter dicker Ast eines Olivenbaums bringt einen Fixpunkt der Kulturgeschichte ins Wanken. Gefunden wurde der Stock in einer Bimssteinwand auf der vulkanischen Mittelmeerinsel Santorin, dem antiken Thera. Wissenschaftler der Universitäten Heidelberg und Stuttgart-Hohenheim haben das teilweise verkohlte Stück in einen mikroskopisch auflösenden Computertomografen gesteckt, Jahresringe gezählt und mit der Radiokarbon-(C14)- Methode datiert.

Nun behaupten sie, der Vulkanausbruch auf Santorin – der nach bisheriger Meinung den Untergang der minoischen Kultur verursachte – habe zwischen 1627 und 1600 v. Chr. stattgefunden. Und zwar definitiv.

Damit rauben sie den Archäologen ein ganzes Jahrhundert. Die nämlich datieren die Naturkatastrophe, die den ganzen östlichen Mittelmeerraum traf, in den Zeitraum zwischen 1520 und 1500 v. Chr. Die neuen Daten – im Magazin „Science“ (Band 312, Seite 565) dargelegt – reißen eine Riesenlücke in die Chronologien vor allem des alten Ägyptens.

Der Streit über die mediterrane Eruption beschäftigte schon Generationen von Gelehrten. Der katastrophale Ausbruch soll die Vulkaninsel gespalten haben. Die Asche verdunkelte die Sonne und stoppte das Baumwachstum sogar in Amerika und Irland. Die Hälfte des Bergkegels stürzte – so die Lehrmeinung – ins Meer und riss das heutige „Loch“ (Caldera) zwischen den beiden Inselteilen auf. Die dabei zwangsläufig entstehende tsunamigleiche Flutwelle und der Ascheregen vernichteten auf Kreta die minoische Hochkultur. Dies führte zum langlebigen Mythos vom ersten Untergang Europas, symbolisiert im Verschwinden der minoischen Kultur, die bis heute noch viele Rätsel bietet.

Allmählich aber wurden junge Archäologen, die auf Kreta arbeiteten, skeptisch. Einer von ihnen, der Geoarchäologe Eberhard Zangger, suchte auf Santorin nach geologischen Verwerfungen, die beim Einsturz einer halben Insel hätten entstehen müssen – er fand keine. Seine These: Die Caldera ist schon bei einem früheren Ausbruch in prähistorischer Zeit entstanden. Zangger suchte an den Küsten Kretas nach Zeugnissen eines Tsunamis – er fand keine, weder antike zerstörte Ufersiedlungen noch zerschmetterte Küstenlandschaften. Andere Archäologen fahndeten nach den Ascheschichten, die einst die Hochkultur auf Kreta erstickt haben sollten. Sie entdeckten nur in den östlichsten Stränden maximal fünf Millimeter dicke Lagen von Santorin-Vulkanasche.

Neben mangelnden archäologischen und geologischen Belegen mussten die Verfechter der Vulkanthese auch noch mit zeitlichen Diskrepanzen fertig werden. Die kretische Hochkultur brach, archäologisch nachweisbar, zwischen 1450 und 1420 v. Chr. zusammen. Da passt eine Naturkatastrophe um 1627 oder 1520 v. Chr. nicht in die wissenschaftliche Argumentation. Der Vulkanausbruch von Santorin hat definitiv mit dem Untergang der minoischen Kultur nichts zu tun.

Die Eruption bleibt dennoch ein wichtiger Fixpunkt für die Chronologie der gesamten Ägäis. Denn es gibt ansonsten keine hieb- und stichfesten Original-Daten für die weitgehend schriftlose Spätbronzezeit der Inselwelt. Alle Daten der minoischen, kykladischen und mykenischen Kulturen im 2. Jahrtausend v. Chr. basieren auf Anbindungen an altorientalische und vor allem ägyptische Zeitskalen. Hergestellt werden diese Bezüge über Ähnlichkeiten und Abfolgen in Kunst und Handwerk der verschiedenen Regionen und über den Handel damit.

Das Santorin-Desaster datieren Ägyptologen in die Zeit des Neuen Reichs, das um 1580 v.Chr. begann und die Fremdherrschaft der Hyksos beendete. Nach der neuen naturwissenschaftlichen Datierung fällt der Vulkanausbruch jedoch genau in diese Zeit ägyptischer Agonie, als das Nil-Imperium von „asiatischen“ Herrschern aus dem palästinensischen Raum gelenkt wurde. Entweder sind also die archäologischen Vergleiche der Kulturen mangelhaft oder in den sowieso nicht eindeutigen ägyptischen Chronologien steckt ein Fehler.

Der Wiener Archäologieprofessor Manfred Bietak, der seit Jahrzehnten für das Österreichische Archäologische Institut im Nildelta die Hyksos-Hauptstadt Auaris ausgräbt, sieht das ganz anders. „Das ist absolut lächerlich, wie da spekuliert wird.“

Er wirft den Naturwissenschaftlern vor, mit dem immer gleichen Material zu arbeiten und von archäologischen Kontexten keine Ahnung zu haben. Denn wenn man „die ägäische Chronologie um 100 Jahre nach oben treiben will, muss man die ägyptische mitziehen“. Für ihn sind die zeitlichen und materiellen Querverbindungen zwischen der Ägäis, Zypern, dem Vorderen Orient und Ägypten jedoch so wasserdicht abgesichert, dass da kein Platz ist für eine neue Datierung.

Und er gibt zu bedenken: „Die archäologische Chronologie Ägyptens stimmt im 14. Jahrhundert v. Chr. sehr gut mit der Radiokarbon-Chronologie überein. Da kann man für das 15., 16. und 17. Jahrhundert nicht plötzlich eine Fehlerquelle von 100 Jahren postulieren.“

Doch die Naturwissenschaftler sind sich ihrer Sache sicher. Physiker Bernd Kromer von der Universität Heidelberg und der Botaniker Michael Friedrich von der Hohenheimer Universität schwören auf ihre penible Arbeitsweise. So haben sie die C14-Methode, die Unsicherheiten von 100 Jahren beinhalten kann, mit der Dendrochronologie gekoppelt.

Das ist aufwendiger, aber sehr viel genauer. Zudem haben sie alle Fehlermöglichkeiten mit einbezogen und mitgerechnet. „Selbst wenn ich jeden zweiten Jahresring übersehen hätte,“ sagt Friedrich, „bleibt das Ergebnis bestehen“. Bernd Kromer zieht das Fazit: „Mit 95-prozentiger Sicherheit können wir von naturwissenschaftlicher Seite die bisherige archäologische Datierung des Vulkanausbruchs ausschließen.“

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