zum Hauptinhalt
247064_0_4799d806.jpeg

© dpa

Gesundheit: Den Volkskrankheiten auf der Spur

Senkt körperliche Bewegung das Krebsrisiko? Welche Gene beeinflussen die Entwicklung der Zuckerkrankheit? Eine Langzeitstudie soll diese und andere Fragen zu den häufigsten Krankheiten beantworten. 200 000 Menschen nehmen teil.

Hinterher ist man immer schlauer, sagt der Volksmund. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das jedoch nur teilweise richtig. Denn der Blick zurück kann die Wahrnehmung verändern. Bestes Beispiel sind Krankheiten: Sind sie eingetreten, dann versuchen die Betroffenen, Erklärungen dafür zu finden. Lässt man sein Leben in einer solchen Krisensituation Revue passieren, dann verzerrt die Diagnose jedoch oft das Bild. So kann es leicht passieren, dass die letzten Jahre im Rückblick als besonders stressig und „ungesund“ erscheinen. Die Angaben, die man darüber macht, sind dann vom Wissen um die Krankheit geprägt – und womöglich verfälscht.

Um die Ursachen für Krankheiten wissenschaftlich aufzuspüren, ist es deshalb besser, gesunde Menschen über Jahrzehnte zu beobachten. Denn einige von ihnen werden im Lauf der Zeit Krankheiten entwickeln. Die Studien, die dafür am besten geeignet sind, heißen prospektive Kohortenstudien. Die Teilnehmer werden über Jahre hinweg immer wieder zu ihrem Lebensstil befragt und medizinisch untersucht. So kann man zum Beispiel herausfinden, ob eine bestimmte Art der Ernährung das Risiko erhöht, innerhalb des Untersuchungszeitraums an Krebs zu erkranken.

In Deutschland ist nun eine solche Kohortenstudie geplant, ein echtes Großunternehmen, an dem unter Federführung des Helmholtz-Zentrums in München und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg 200 000 heute gesunde männliche und weibliche Bundesbürger teilnehmen werden. Eine stattliche Zufallsstichprobe, die zur Neugründung einer Großstadt ausreichen würde. Die Helmholtz-Gemeinschaft, mit insgesamt 15 Zentren größte Wissenschaftsgemeinschaft in Deutschland, wird als Starthilfe für das Projekt 20 Millionen Euro zur Verfügung stellen. „Angesichts einer solchen Summe klingt das Wort ‚Anschubfinanzierung‘ erstaunlich“, sagt Rudolf Kaaks vom DKFZ in Heidelberg, einer der Koordinatoren der Studie. Doch die Untersuchung ist auf mindestens 20 Jahre angelegt. Eine Kohorte dieser Größe bietet die einmalige Chance, vielfältigen Fragestellungen nachzugehen. Will man die Gelegenheit nutzen, dann ist für den Zeitraum bis 2018 mit einem Finanzbedarf zu rechnen, der das Zehnfache der Ausgangssumme beträgt. Eine Aufgabe für Bund, Länder und Universitäten.

Neben dem DKFZ und dem Helmholtz-Zentrum München werden auch alle anderen Helmholtz-Gesundheitszentren in das Projekt eingebunden: das Max-Delbrück-Centrum (MDC) in Berlin-Buch, wo Thomas Willnow die Aktivitäten koordiniert (siehe Kasten), das Forschungszentrum in Jülich, das Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig und das gerade gegründete Helmholtz-Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn. Außerdem gibt es intensive Kooperationsgespräche mit Arbeitsgruppen an verschiedenen Universitäten.

Die Teilnehmer der nationalen „Helmholtz-Kohortenstudie“ sollen regelmäßig medizinisch untersucht werden. Mittels Fragebögen werden zudem umfangreiche Informationen zu psychosozialen Faktoren, körperlicher Aktivität, Ernährungs- und Rauchgewohnheiten, medizinischer Vorgeschichte und Einnahme von Medikamenten erhoben. Darüber hinaus werden allen Studienteilnehmern Blutproben entnommen. Wie oft das alles stattfinden wird, ist noch nicht klar.

Denn in den nächsten zwei bis drei Jahren steht erst einmal die genaue Planung an. „Wir müssen zum Beispiel entscheiden, welche Fragebögen wir verwenden und welche Proben wir entnehmen wollen, denn wenn die Studie läuft, ist daran nicht mehr viel zu verändern“, erläutert Rolf Zettl, Geschäftsführer der Helmholtz-Gemeinschaft. In einer Pilotphase wird das Konzept zunächst mit einer geringeren Zahl von Teilnehmern getestet. Mit der Rekrutierung der eigentlichen großen Stichprobe soll im Jahr 2012 begonnen werden.

Dass eine derart große Anzahl von Teilnehmern gebraucht wird, hat bei genauerer Betrachtung erfreuliche Gründe: Viele Teilnehmer werden im Untersuchungszeitraum gesund bleiben, einige der Krankheiten, um die es gehen soll, sind selten, vor allem in jungen Jahren. Andere Krankheiten entwickeln sich nur langsam. „Krankheit ist kein Ja-Nein-Prozess, sondern entsteht meist über einen längeren Zeitraum aufgrund einer Veränderung lebenswichtiger Funktionen, mit der der Körper nicht mehr zurecht kommt“, erklärt Projekt-Koordinator Erich Wichmann vom Helmholtz-Zentrum in München. Neben der Entstehung von Herzinfarkten aus entzündlichen Veränderungen, die zur Arteriosklerose führen, interessiert ihn besonders die Entwicklung der Zuckerkrankheit, genauer gesagt des Diabetes mellitus Typ 2 („Alters-Diabetes“). In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Genen identifiziert, die das Risiko erhöhen, im Lauf des Lebens eine Zuckerkrankheit zu entwickeln. Klassische Risikofaktoren sind Übergewicht, geringe körperliche Aktivität, hoher Blutdruck und veränderte Blutfettwerte. „Wir wissen, dass Gene und Lebensstil hier zusammenwirken, aber uns fehlen wichtige Details zum Verständnis der genauen Mechanismen der Krankheitsentwicklung.“ Zum Basisprogramm der Studienteilnehmer wird neben dem Messen von Körpergröße, Bauchumfang und Blutdruck und dem Erfassen anderer möglicher Risikofaktoren auf jeden Fall das Blutabnehmen gehören. „Es könnte sein, dass wir im Verlauf der Untersuchung Werte ermitteln möchten, von deren Bedeutung wir heute noch gar nichts wissen“, sagt Wichmann.

Das gilt selbstverständlich nicht nur für Diabetes und Herz-Kreislauf-Leiden, sondern auch für das große Thema Krebs. „Das Blut, das wir abnehmen, ist wichtig, um bei Studien zu Brustkrebsrisiko und Hormonwerten die zeitlichen Hormonschwankungen besser in den Blick zu bekommen“, erläutert Krebsspezialist Kaaks. Bei einem großen Teil dieser Tumore verfügen die veränderten Zellen über Andockstellen für Östrogene, unter deren Einfluss sie wachsen.

Die zentrale Blutbank, in der alle Proben gesammelt werden, ist in den Augen von Kaaks der wichtigste Teil der geplanten Großstudie. Sie soll nicht zuletzt die Suche nach sogenannten Markern erleichtern. Das sind Hinweisstoffe im Blut, mit deren Hilfe man in Zukunft bestimmte Krebsformen früher zu identifizieren hofft – nämlich die, die bisher lange unerkannt bleiben, da sie zunächst keine Beschwerden machen.

Zahlreiche Studien haben in den letzten Jahren Hinweise darauf geliefert, dass körperliche Bewegung das Krebsrisiko senkt. Vor allem für Krebs an Brust und Darm ist das inzwischen gut belegt. „Wir haben allerdings noch nicht verstanden, auf welchen Wegen das geschieht und welche Stoffwechselprozesse dafür wichtig sind“, sagt Krebsmediziner Kaaks. Eine Untergruppe von Teilnehmern wird wahrscheinlich für den Alltag mit Puls- und Bewegungsmessern ausgestattet. So sollen körperliche Aktivitätsmuster präziser ausgewertet werden.

Zum Zusammenhang zwischen Ernährung und Krebsentstehung weiß man inzwischen schon etwas mehr, nicht zuletzt durch die 1992 begonnene EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition), für die 519 000 zu Beginn gesunde Durchschnittseuropäer aus zehn Ländern im Dienste der Wissenschaft mehrfach gemessen und gewogen wurden, Blut abgenommen bekamen und über ihre Mahlzeiten Tagebuch führten. 27 500 der Teilnehmer stammen aus Potsdam und Umgebung, um ihre Daten kümmert sich das Deutsche Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke. Eine zweite deutsche EPIC-Kohorte, ebenfalls mit mehr als 25 000 Teilnehmern, wird in Heidelberg vom DKFZ betreut.

Großprojekte wie die Helmholtz-Studie sind auch in Großbritannien, in Skandinavien, in den Niederlanden und in der Volksrepublik China geplant. Sie alle untersuchen anfangs gesunde Teilnehmer. „Wir wünschen uns natürlich, dass die Teilnehmer lange gesund bleiben“, sagt Zettl. Einige werden im Lauf der Jahre jedoch nicht nur eine, sondern mehrere Krankheiten bekommen. Die Forscher wollen nicht zuletzt mehr Aufschluss darüber gewinnen, wie sich diese Krankheiten gegenseitig beeinflussen.

Adelheid Müller-Lissner

Zur Startseite