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Gesundheit: Gewogen und zu leicht befunden

Ein niedriges Gewicht bei der Geburt gilt als Risiko für die Entwicklung von Kindern. Zu Recht?

In den vergangenen Monaten wurde die Öffentlichkeit durch eine Serie von Meldungen über Kinder aufgeschreckt, die von ihren Eltern vernachlässigt und misshandelt wurden. Die vorerst letzte der schlimmen Geschichten ist die der sechs- und vierjährigen Brüder, die im brandenburgischen Blankenfelde unterkühlt in einem Schuppen gefunden wurden. Im Jahr 2004 wurden Zeitungsberichten zufolge 2971 Misshandlungsfälle gemeldet, 1996 waren es „nur“ 1971.

Ob Gewalt und Gleichgültigkeit gegenüber den schwächsten Familienmitgliedern tatsächlich zugenommen haben oder ob die Fälle nur häufiger beim Staatsanwalt landen, ist unklar. Zweifellos hat die Aufmerksamkeit dafür zugenommen – auch in der Politik.

Im Koalitionsvertrag werden „Wächteramt und Schutzauftrag der staatlichen Gemeinschaft“ gegenüber Kindern mit gesundheitlichen und sozialen Risiken hervorgehoben. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen kündigte in der letzten Woche an, die Bundesregierung wolle zehn Millionen Euro für den Aufbau eines sozialen Frühwarnsystems investieren. Familienhelfer und Hebammen, die gefährdeten Familien länger als bisher üblich zur Seite stehen, sollen mit Hausbesuchen dem Ausbruch von Gewalt und Verwahrlosung vorbeugen.

Doch wer ist „gefährdet“? Von der Leyen, die auch Gynäkologin ist, verweist auf wissenschaftliche Untersuchungen, wonach das niedrige Geburtsgewicht eines Kindes einen Hinweis darauf liefern könnte, dass die Mutter während der Schwangerschaft besonderem Stress ausgesetzt gewesen sei.

Eine dieser Studien stammt aus dem Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Dort hat die Arbeitsgruppe des Psychologen Manfred Laucht die körperliche und geistige Entwicklung von fast 400 Kindern über zwölf Jahre hinweg verfolgt. Niedriges Geburtsgewicht war eines der Risiken, die sich bis ins Schulalter hinein nicht nur in Beeinträchtigungen von Motorik und Konzentrationsfähigkeit, von Lernen und schulischen Leistungen auswirkten. Kinder dieser Gruppe waren zudem besonders gefährdet, körperlich misshandelt zu werden.

Kinder, die mit wenig Gewicht auf die Welt kommen, tragen oft an mehreren Risiken schwer. Laucht spricht von einem „Konglomerat von Risiken“: Ihre Mütter sind überdurchschnittlich häufig Raucherinnen, haben chronische Krankheiten, sind besonders jung oder leben häufig in Armut. Und die Kinder haben meist deutlich zu früh das Licht der Welt erblickt.

Weil sie in vielerlei Hinsicht eigentlich noch zu unreif sind für das Leben außerhalb des schützenden Mutterleibs, ist auch für die Eltern die Eingewöhnung und der Aufbau einer guten, sicheren Beziehung schwer: Die „Frühchen“ brauchen beim Start oft intensive medizinische Betreuung, sie sind auch zu Hause meist nicht pflegeleicht. Unter ihnen sind zum Beispiel besonders viele „Schreibabys“, die sich schwer beruhigen lassen. Damit steigt die Gefahr, dass den Eltern der Geduldsfaden reißt.

„Misshandlung und Vernachlässigung haben ihren Ursprung häufig in der Unfähigkeit der Eltern, mit einem quengelnden Kind umzugehen, seine Signale angemessen zu erfassen“, sagt Gerhard Jorch, Sprecher Gruppe der Neugeborenen-Spezialisten in der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

Der Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie der Universität Magdeburg ergänzt: „Die Eltern sind häufig durch den eigenen Stress von den kindlichen Bedürfnissen abgelenkt.“ Viele der jungen Mütter haben oft schon während der Schwangerschaft besonders unter Stress gestanden. Denn bekanntermaßen führen Belastungen in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz und psychische Störungen häufig zu vorzeitigen Wehen und Frühgeburten.

„Die Studien zeigen aber auch, dass es möglich ist, frühzeitig Entwicklungsgefährdungen vorzubeugen“, sagt Laucht. Prinzipiell hält der Psychologe das Geburtsgewicht für einen geeigneten Anhaltspunkt, um zu entscheiden, welche jungen Familien besondere Hilfsangebote brauchen. „Dieses Kriterium hat den Vorteil, dass es recht einfach zu bestimmen und auch häufig mit anderen Risiken verknüpft ist.“ Anders als Einkommens- oder Bildungsmerkmale wirke es auch nicht per se diskriminierend.

In diesem Punkt ist sich Neugeborenenmediziner Jorch nicht so sicher. Er warnt davor, veraltete staatliche Überwachungssysteme zu reaktivieren. Zwischen Problemen in der Familie und Frühgeburtlichkeit gebe es nur statistisch einen Zusammenhang. Viele hoch motivierte Eltern von Frühgeborenen könnten sich zu Unrecht misstrauisch beäugt fühlen, wenn man eine Gruppe nur nach diesem Kriterium definiere.

Auch Ute Thyen von der Lübecker Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Schleswig Holstein mahnt, die Statistiken mit der nötigen Vorsicht zu interpretieren: „Selbst wenn das Schütteltrauma bei Frühgeborenen etwas häufiger ist: Die überwältigende Mehrheit der Eltern schüttelt ihre Frühgeborenen nicht!“ Jorch verweist darauf, dass es mehr Frühchen gibt, seit durch die moderne Fortpflanzungsmedizin vermehrt Mehrlinge geboren werden – Wunschkinder, für die viele Eltern sich sehr engagieren. „Extrem schlimme Zustände der Verwahrlosung“ sehen die Kinderärzte vor allem in den Kliniken nach Jorchs Aussage häufig – und längst nicht allein bei „Frühchen“. Frühchen und andere Risikoneugeborene gelangten allerdings schneller in einen lebensbedrohlichen Zustand.

Jorch plädiert dafür, zunächst einmal die Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder verpflichtend zu machen. „Wenn alle zu diesen Untersuchungen gehen, werden Familien mit besonderen Problemen automatisch erfasst. Der Diskriminierungsaspekt entfällt.“

Der Berufsverband der Kinderärzte unterstützt die Initiative, die Termine beim Kinderarzt – Eltern bekannt als U1 bis U8 – zur Pflicht zu machen. Viele Pädiater halten allerdings die Abstände zwischen den Untersuchungen bei den Zwei- bis Fünfjährigen für zu groß. Zusätzliche Termine bei entwicklungsgestörten oder -bedrohten Kleinkindern nach kinderärztlicher Begründung sollten eingeschoben werden, sagt auch Jorch. Bei Hochrisiko-Frühgeborenen unter 30 Schwangerschaftswochen sollte das Perinatalzentrum, in dem die Frühchen geboren und nach der Geburt behandelt wurden, an dieser Nachbetreuung mitwirken.

Die Angebote der Vorsorge, von den Experten als „Komm“-Strukturen bezeichnet, sollen verstärkt durch „aufsuchende“ Hilfe ergänzt werden. „Irgendjemand muss nach Hause gehen, wenn die Kinder nicht zu den Untersuchungen kommen“, sagt Ute Thyen.

Dass Hebammen einzelne Familien länger als bisher betreuen dürfen, hält auch Jorch für sinnvoll. „Hauptaufgabe aber muss die Unterstützung der Familien sein – und nicht ihre Kontrolle.“ Hier spricht der Kinderarzt aus eigener Erfahrung: Als Kind einer kinderreichen Familie in den 50er Jahren könne er sich gut an ein „Missverhältnis zwischen behördlichen Kontrollen und Hilfeleistungen erinnern“.

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