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Gesundheit: „Haupt- und Realschulen zusammenlegen“

Mister Pisa im Ruhestand: Jürgen Baumert verlässt mit 65 die Bildungsforschung – und blickt auf die Zukunft des Lernens

Herr Baumert, seit 2000 gelten Sie als „Mister Pisa“. Ist die mit den Pisa-Tests der OECD eingeleitete Wende in der deutschen Bildungsforschung auch der Höhepunkt Ihres Forscherlebens, in dem es jetzt mit Ihrem 65. Geburtstag eine Zäsur gibt?

Das war sicherlich einer der wichtigsten Punkte, weil seitdem die Öffentlichkeit bereit war, der Bildungspolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Pisa gilt heute nicht mehr als eine oberitalienische Stadt mit einem schiefen Turm, sondern als ein Begriff für die deutsche Bildungsmisere. Was hat sich da ereignet?

Diejenigen, die von Berufs wegen ein Interesse an Bildung haben, wussten schon vor der Veröffentlichung der Pisa-Ergebnisse, dass etwas mit unserem Bildungssystem im Argen liegt – hinsichtlich Zuverlässigkeit, Leistung und Engagement. Insofern ist Pisa auf ein vorbereitetes Fachauditorium gestoßen. Fünf Jahre vor der Pisa-Veröffentlichung von 2001 erschien eine internationale Lesestudie, die den Experten vorbereitet hat, aber in der Öffentlichkeit und der KMK noch unbeachtet blieb. In der Öffentlichkeit gab es allerdings ein diffuses Unbehagen, dass nicht alles zum Besten steht. Dies war ein fruchtbarer Boden für Pisa.

Was hat Sie an den Timss-Studien in Mathematik und Naturwissenschaften sowie an den Pisa-Tests im Leseverständnis am meisten schockiert?

Wir haben seit Jahren eine substanzielle Risikogruppe in Deutschland. Für sie ist die Prognose für den Übergang in das Berufsleben ausgesprochen schlecht. Diese Klärung war das wirkliche Novum von Pisa. Dies war in der vorhergehenden Timss-Studie über die mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz noch nicht so erkennbar. Ferner wurde durch Pisa zum ersten Mal sichtbar, wie stark der Wissenserwerb an die soziale Herkunft gekoppelt ist. Man wusste, dass es Ungerechtigkeiten in der Bildungsbeteiligung gibt, aber dass sich die familiäre Herkunft auf den Erwerb von Kompetenzen so stark niederschlägt, war selbst den Experten nicht klar. Es gab vorher auch keine vergleichbaren Daten.

Im Jahr 2001 verkündete die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, Ziel sei es, dass in zehn Jahren Deutschland aus dem schlechten Durchschnitt in die internationale Spitze vordringen könne. Bildungsforscher sprachen von 15 Jahren, um eine substanzielle Verbesserung sichtbar machen zu können. Womit rechnen Sie?

Einen so großen Tanker wie das Bildungswesen umzusteuern, ist nicht ganz einfach. Die Entscheidungen, die die Länder und die KMK nach dem ersten PisaSchock seit 2001 über die langfristige Entwicklung unseres Schulsystems getroffen haben, sind einschneidend. Das ist eine wirkliche Kurskorrektur. Die Länder haben sich zum ersten Mal längerfristig auf ein gemeinsames Programm verpflichtet. Dazu gehören die Bildungsstandards und die Überprüfung der Bildungsstandards, die Selbstverpflichtung, an internationalen Vergleichen mitzuarbeiten, die alle Stufen des Schulwesens betreffen. Vergleichsarbeiten an den Schulen quer über alle Schularten und Bundesländer hinweg werden weitere Erkenntnisse liefern.

Wann greifen die Reformen?

Alles hängt davon ab, wie diese Maßnahmen in den Schulen verarbeitet werden. Dazu brauchen sie Unterstützung von außen durch Ausbau oder Aufbau von Infrastruktur, aber auch Willen und Ausdauer. Diese Entwicklung wird in fünf Jahren noch nicht abgeschlossen sein.

Immer wieder hört man von linken Politikern und Interessengruppen, Deutschland solle endlich Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen einführen, wenn es Schulerfolge wie in Skandinavien erreichen wolle. Nur zeigen die Vergleiche der erreichten Kompetenzstufen, dass die Gesamtschulen kaum bessere Leistungen erzielen als die Hauptschulen.

Je verschiedener die Schüler in Begabung und Leistungsfähigkeit sind, umso mehr nehmen die Schwierigkeiten zu, sie gemeinsam zu unterrichten. Allein durch Veränderungen der Heterogenität wird nichts erleichtert, sondern alles erschwert. Man muss aber auch sagen: In dem Moment, da man ein Schulsystem so stark differenziert, dass ein Wettbewerb ausgelöst wird, gibt es auch eindeutige institutionelle Verlierer wie die Hauptschule im viergliedrigen Schulsystem von heute. Unter diesen Bedingungen werden negative Ergebnisse erzeugt, die nicht ohne weiteres durch das Können der Lehrer und Lehrerexpertise zum Ausgleich zu bringen sind.

Was ist zu tun?

Die neuen Länder haben es vorgemacht, wie man in historisch verantwortungsvoller Weise Schule reformieren kann. Dort knüpfte man an eine Tradition in einer Weise an, dass Schulreform in der Bevölkerung akzeptiert wurde und des dennoch zu einer Vereinfachung des Schulsystems gekommen ist. Man hat dort Hauptschulen und Realschulen in sogenannte Sekundarschulen zusammengeführt und die Gymnasien beibehalten. Dies ist eine Perspektive, die realistischere Chancen bietet als der konfliktreiche Umbau eines Systems ganz auf die Einheitsschule zu.

Welche Schulreform empfehlen Sie?

Man kann die Strukturfrage nicht ausschalten. In Ballungsgebieten, wo es Problemzentren gibt, wird eine Vereinfachung des Schulsystems Erleichterung bringen. Das wird nicht ausreichen. Entscheidend ist die Verbesserung der Unterrichts- und Lernprozesse. Dies wird nicht ohne zusätzliche Zeit und zusätzliche Förderung für die Risikogruppen gehen. Das zeigt ein Feldexperiment mit Kontrollgruppe und Zufallszuweisung in Bremen: Wir haben in den Sommerferien Zuwandererkinder mit Theater beglückt und mit Grammatik trainiert. Diese zusätzlichen Angebote fruchten tatsächlich und bringen mehr als die erhofften Ergebnisse.

Empfehlen Sie die Ganztagsschule, damit man vor allem das Problem der großen Zeitvergeudung am Nachmittag und Abend durch die Risikogruppen in den Griff bekommt?

Eine Ganztagsschule muss eine wirklich pädagogische Einrichtung sein. Der Tagesablauf sollte zwischen Lernen und Entspannung wechseln. Alle Beteiligten dürfen das Ziel nicht aus dem Auge verlieren, dass Schule vor allem eine Bildungsveranstaltung ist. Eine solche Ganztagsschule bietet mehr Zeit und Interventionsmöglichkeiten als eine Halbtagsschule. Neben neu geschaffenen Ganztagsschulen haben wir de facto in einzelnen Bereichen Ganztagsschulen ohne die entsprechende Ausrüstung. Unsere Gymnasiasten kommen in der Oberstufe um 15 Uhr nach Hause, ohne in der Schule in einer Mensa verpflegt worden zu sein. Das wäre in anderen Ländern mit Ganztagsschulen völlig undenkbar. Da wird in Deutschland an falscher Stelle gespart.

Was haben Sie sich für die Zeit nach dem 65. Lebensjahr vorgenommen?

Mir ist von der Max-Planck-Gesellschaft angetragen worden, für die nächsten Jahre das Amt des Vizepräsidenten der geisteswissenschaftlichen Sektion zu übernehmen. Es ist eine neue Herausforderung, Zukunftsfragen unserer Gesellschaft verstärkt in den Blick zu nehmen – mit Themen wie der Neurokognitionsforschung, der Alternsforschung oder der demografischen Forschung. Da lerne ich im Alter noch ein bisschen dazu.

Das Gespräch führte Uwe Schlicht.

Jürgen Baumert, geboren am 3. November 1941, war als Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin mitverantwortlich für die Pisa-Untersuchungen 2000 und 2003.

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