zum Hauptinhalt

Gesundheit: Hilfe für den Zappelphilipp

Von Adelheid Müller-Lissner „Als Ihr klein wart, gab es doch auch nicht so viele Kinder mit diesen Störungen. Das muss an der modernen Erziehung liegen!

Von Adelheid Müller-Lissner

„Als Ihr klein wart, gab es doch auch nicht so viele Kinder mit diesen Störungen. Das muss an der modernen Erziehung liegen!“ Das sagt der besorgte Großvater eines Neunjährigen zu seiner Tochter. Sein Enkel ist vor einigen Wochen wegen seiner Probleme mit der Konzentration im Unterricht, wegen seiner Zappeligkeit und der zunehmenden Schwierigkeiten im Umgang mit Eltern, Lehrern und Mitschülern von seinem Kinderarzt zum Spezialisten für Kinderpsychiatrie geschickt worden.

Dort bekam er ein Medikament verordnet, und seitdem scheint manches besser zu laufen: Der Junge kann sich besser auf eine Aufgabe konzentrieren, er schafft es mühelos, eine Schulstunde ruhig zu sitzen, und er reagiert nicht mehr so aggressiv auf Kritik. Nicht nur die Erwachsenen, auch der junge Patient selbst wirkt zufriedener. Doch die Eltern des Grundschülers sind unsicher, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen haben: Zwar haben sie gleichzeitig psychologischen Rat eingeholt und strukturieren den Tageslauf ihres Sohns nun klarer. Es bleibt die Skepsis der Großeltern und das, was die beste Freundin der Mutter zwar nicht so plump, aber doch deutlich zu verstehen gegeben hat: Machen sie es sich nicht zu einfach, indem sie „Chemie“ einsetzen, um „Wohlverhalten“ zu erzeugen?

Eltern, deren Kinder an Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) leiden, haben es nicht leicht: Zu den Schwierigkeiten mit dem Kind kommen die Kommentare der Umwelt, aber auch die eigene Unsicherheit, ob die Therapie mit Medikamenten richtig ist. Nun haben sie eine neue Sorge: In einem Spiegel-Interview und nun auch in einem Buch (Gerald Huether / Helmut Bonney: „Neues vom Zappelphilipp“, Walter-Verlag 2002) warnt der Göttinger Neurologe Gerald Huether vor Spätfolgen des Medikaments Ritalin, mit dem inzwischen weltweit zehn Millionen Kinder und Jugendliche behandelt werden: Der Wirkstoff Methylphenidat könne langfristig sogar dazu führen, dass sich die Nervenkrankheit Parkinson entwickle.

Die Substanz gehört zur Gruppe der Amphetamine, die das Zentralnervensystem stimulieren, indem sie die Freisetzung des Botenstoffs Dopamin fördern. Studien an jungen Ratten, die Amphetamine bekamen, haben ergeben, dass die verfügbare Menge an speziellen Transportern des Botenstoffs auch nach dem Absetzen des Medikaments dauerhaft verringert blieb. Die Göttinger Forscher glauben deshalb, dass Amphetamine, die in der Kindheit eingenommen werden, die Ausreifung des Verarbeitungssystems für Dopamin im Gehirn behindern können.

Ergebnisse kaum übertragbar

Kritiker bezweifeln allerdings, dass diese Ergebnisse, die an wenigen Tieren gewonnen wurden, sich überhaupt auf Menschen übertragen lassen. Vor allem der Schluss auf Kinder mit ADHS ist gewagt: Denn der von den meisten Wissenschaftlern favorisierten Hypothese zufolge leiden sie eher an einer zu hohen Dichte des Dopamin-Transporters. Bei der Parkinson-Krankheit dagegen, die meist nach dem 50. Lebensjahr auftritt, gehen in einem anderen Areal des Gehirns Zellen zugrunde, die bei der Produktion des Botenstoffs Dopamin beteiligt sind. Die Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte weist zudem darauf hin, dass Psychostimulanzien wie Ritalin seit mehreren Jahrzehnten bei hyperaktiven Kindern eingesetzt werden. Berichte über Parkinson-Erkrankungen von Ritalin-Patienten liegen jedoch nicht vor. „Dies wäre durchaus zu erwarten, nachdem spätestens seit Mitte der 70er Jahre Methylphenidat in größerem Umfang verordnet wird“, heißt es aus der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Göttingen.

Der Kinderpsychiater und ADHS-Spezialist Michael Huss von der Charité bezeichnet denn auch die Schlussfolgerungen, die Huether aus der Ratten-Studie zog, als „viel zu weitreichend. Wir nehmen zwar an, dass die Behandlung mit Medikamenten im sich entwickelnden Gehirn Spuren hinterlässt“, sagt Huss. Das könnten allerdings auch „Veränderungen in die gewünschte Richtung“ sein. So weisen Studienergebnisse darauf hin, dass junge Erwachsene, die wegen ADHS in der Kindheit mit Ritalin behandelt wurden, weniger suchtgefährdet sind.

Das Medikament wird meist erst eingesetzt, wenn der Druck für alle Betroffenen schon riesig ist. Spuren im Gehirn hinterlässt aber auch die Art, wie die Umwelt mit dem Kind von klein auf umgeht. Barbara Högl, Vorsitzende des Arbeitskreises Überaktives Kind, wirbt dafür, dass Eltern und Kinderärzte schon ganz früh auf Verhaltensauffälligkeiten achten. Außerdem brauchen hyperaktive Kinder viel Bewegung, eine feste Tagesstruktur und eine Umgebung, die sie nicht mit Reizen überflutet.

„Wir bedauern sehr, dass die öffentliche Diskussion sich immer wieder an den Medikamenten festbeißt", sagt Barbara Högl. Bedenklich sei das erstens, weil die Mittel allein nicht gesund machen, sondern in ein ganzheitliches Therapiekonzept eingebettet sein müssten. Zweitens aber auch, weil mit Methylphenidat eine Substanz zur Verfügung stehe, die schon vielen verzweifelten Familien geholfen habe.

Högl ermuntert deshalb Eltern, die sich nach sorgfältiger Diagnostik und Abwägung zusammen mit dem Arzt für das Medikament entschieden haben, „sich jetzt auf ihrem Weg nicht verunsichern zu lassen“. Natürlich müsse man dafür die Minimaldosis finden, die Wirkung beobachten und pädagogisch nutzen - und nicht zuletzt auch prüfen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, auf das Präparat zu verzichten.

An diesem verantwortungsvollen Einsatz hapert es nach Meinung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk. Sie fordert, dass höhere Dosen in Zukunft nur zusammen mit anderen Therapien und nur von speziell ausgebildeten Ärzten verordnet werden sollten. Einen solchen „Ritalin-Führerschein“ hält auch Huss für sinnvoll. Außerdem müsse man sich darum bemühen, Kinder, die wirklich unter ADHS leiden, von denen zu unterscheiden, deren Sozialverhalten gestört ist und bei denen pädagogisch-psychologische Mittel allein helfen. Denn die „Modediagnose“ ADHS werde zu leichtfertig gestellt und der Rezeptblock zu schnell gezückt. Fazit: Anlass zur Sorge vor den späten Folgen der Einnahme gibt es nicht. Grund zur Sorgfalt bei der Verordnung und für intensive Forschung durchaus.

Weitere Informationen: Bundesgeschäftsstelle des Arbeitskreises Überaktives Kind e.V.. Telefon: 030/85605902. Im Internet: www.auek.de

NAME

Zur Startseite