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Gesundheit: „Ich hoffe auf eine neue Kultur des Alters“

Wir bleiben länger jung, gehen aber früher in Rente – der Altersforscher Paul Baltes fordert Konsequenzen

Die Berliner Altersstudie zeigt, dass wir nicht nur länger leben, sondern auch später alt werden. Sollte deshalb auch das Rentenalter erst mit 70 statt mit 65 Jahren beginnen?

Die Berliner Altersstudie zeigt in der Tat: Es gibt viele ältere Menschen, die körperlich und geistig so fit sind, dass es für sie eine Arbeitsmöglichkeit beispielsweise bis zum Alter von 70 Jahren geben sollte. Aber die Studie zeigt auch, dass Menschen sehr unterschiedlich altern. Deshalb sollte der Einritt in den Ruhestand variabel gestaltet werden. Eine solche individuelle Flexibilität entspräche der wissenschaftlichen Erkenntnis.

Bei allen Verschiedenheiten im Prozess des Alterns – wie sieht es denn im Durchschnitt aus?

60 bis 80-Jährige haben in den letzten 25 Jahren durchschnittlich fünf gute Jahre gewonnen. Der heute 65-Jährige zum Beispiel ist also körperlich und geistig eher einem 60-Jährigen von damals vergleichbar.

Warum geht man dann in Deutschland überwiegend schon mit 60 in Rente?

Einerseits wird es in unserer Arbeitswelt den Älteren nicht gerade nahegelegt, im Arbeitsleben zu bleiben: Wir habe noch keine Kultur der Arbeit für den älteren Menschen. Andererseits wird in der modernen Gesellschaft der Mensch eher zu Freizeitaktivitäten hingeführt. Diese beiden Faktoren spielen zusammen.

Es gibt doch auch Frührentner, die einfach nicht mehr können – wie hoch ist deren Anteil?

Sichere wissenschaftliche Erkenntnisse zu dieser Frage gibt es meines Wissens nicht. Die große Menge jedenfalls ist körperlich und geistig vital und prinzipiell arbeitsfähig. Nur ist die Arbeitswelt noch nicht so gestaltet, dass sie auf das Besondere des Altwerdens eingeht, dass es für ältere Menschen also interessant wäre, länger zu bleiben oder eine berufliche Neuorientierung zu beginnen. Und unter den Bedingungen des sozialen Wohlfahrtsstaates kann man sich ein frühes Leben ohne Arbeit – noch – leisten.

Wenn aber die Älteren länger arbeiten: Haben dann die Jungen nicht recht, wenn sie sagen, dass ihnen die Alten die Arbeitsplätze wegnehmen?

Das Rentenalter ist in fast allen westlichen Ländern im letzten Vierteljahrhundert um etwa fünf Jahre nach unten verschoben worden, auch dort, wo Arbeitslosigkeit kein zentrales Problem ist. Der Arbeitsmarkt spielt dabei eine viel geringere Rolle als man glaubt.

Wird es in Zukunft Konkurrenz um die Arbeitsplätze zwischen Alt und Jung geben?

Nein, denn eine der wichtigsten demographischen Veränderungen besteht ja darin, dass die jüngeren Jahrgänge an Zahl immer geringer werden. Schon in sechs, sieben, acht Jahren wird es einen großen Bedarf an Arbeitskräften geben, der nur durch ältere Menschen zu decken ist.

In einem Werkstattgespräch des Max-Planck- Instituts für Bildungsforschung sagten Sie kürzlich eine „Hochkonjunktur“ der Älteren im Berufsleben voraus. Stützt sich diese Prognose noch auf andere als demographische Gründe?

Das Entwicklungs- und Produktivitätspotenzial der älteren Menschen ist bisher nicht ausgeschöpft. Diese Verschwendung von „Humankapital“ können wir uns nicht länger leisten. Auch im Interesse der Menschlichkeit hoffe ich auf eine neue Kultur des Alters. Sie wird tiefer greifende Reformen der „Lebensverlaufspolitik“ erfordern als dies gegenwärtig gedacht wird.

Allein die Politik mit ihre Gesetzen tut’s wohl nicht. Muss die Gesellschaft, muss die Wirtschaft zu einer neuen Haltung und einer neuen Strategie finden?

Die Unternehmen waren bisher darauf eingestellt, dass Lebensarbeit in einer einzigen Firma und ein und demselben Job stattfindet. Die Gewerkschaften sind genau so „multi-job-blind“. Die Menschen verändern sich aber, wenn sie älter werden. Sie haben andere Interessen, andere Motive, möchten andere Arbeitszeitregelungen. Und sie haben auch andere Schwächen und Stärken.

Zum Beispiel?

Wenn man älter wird, ist man zwar körperlich nicht mehr so belastbar und es fällt einem schwerer, Neues zu lernen. Aber dafür wird man besser in vielem, was mit Lebenserfahrung und mit Menschen zu tun hat, beispielsweise Sozialkompetenz. Man könnte in eine andere Karriere umsteigen, aber ein beruflicher Neuanfang, am besten in einer anderen Firma, wird heute eher erschwert.

Müsste die Lebensarbeitszeit nicht auch früher beginnen, vor allem die der Akademiker?

Das wäre ganz wichtig. Früher lernte man fürs Leben. Heute, in einer schneller sich wandelnden Welt, muss man lebenslang lernen, worauf unser Bildungssystem aber noch nicht vorbereitet ist. Die Grundausbildungsgänge könnten dann erheblich kürzer werden.

Wird das auch tatsächlich geschehen? Die Politik lässt Scharen von Wissenschaftlern Gutachten erarbeiten, aber kümmert sie sich auch um die Ergebnisse?

Wie alle Menschen haben auch Politiker oft vorgefertigte Meinungen. Sie stehen überdies unter dem Interessendruck ihrer Parteien und bedienen sich der wissenschaftlichen Erkenntnisse daher sehr selektiv. Deshalb sollten Wissenschaftler-Kommissionen zumindest in ihrer Zusammensetzung und auch bei der Beratung so unabhängig von der Politik wie möglich sein.

Eine Utopie?

Ja – solange solche Kommissionen von der Politik eingesetzt und auch zusammen gesetzt werden. Außerdem geht es der Politik, auch der gegenwärtigen Alterspolitik, vor allem um die ökonomischen Probleme: die Sicherung der Renten und die Stabilisierung des Bundeshaushalts. Für einen Sozialwissenschaftler ist auch das eine wichtige Frage. Aber er weiß zugleich, dass alles, was geplant wird, auch visionären Charakter haben sollte und dass es vor allem von den einzelnen Menschen angenommen werden muss.

Wovon hängt das ab?

Zum Beispiel davon, dass es ihren Motiven, Interessen und Kompetenzen entspricht. Wir wissen ja, dass ökonomische Modelle oft hochelegant sind und sich auch rechnen können, aber gleichzeitig an der Realität des Verhaltens der Einzelnen und an ihren Zukunftshoffnungen vorbei agieren. Die Rürup-Kommission täte also gut daran, sich sehr genau darüber zu informieren, was die Forschung über das psychische Älterwerden von Menschen heraus gefunden hat und wie man sich eine gesellschaftliche Zukunft des Alters vorstellen kann, die nicht nur aus der historischen Vergangenheit gewachsen und deshalb schon von vornherein überholt ist.

Das Interview führte Rosemarie Stein.

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