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Gesundheit: „Im Auslegen seid frisch und munter!“

Gesetze sind keine Fakten, sie werden interpretiert. Die Rolle der Sprache dabei untersuchen Forscher

Der Jurist Goethe hatte die großen und kleinen Widersprüchlichkeiten seines erlernten Faches gut begriffen. „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter“, so dichtete er im „Faust“ an die Adresse seiner Zunft. Die Auslegung ist das Handwerk der Juristen, und wie es funktioniert, sagt schon der Name für jene gesellschaftliche Institution, die in sozialen oder politischen Konflikten letztverbindlich entscheidet: Die Recht-„sprechung“.

Recht wird gesprochen, das ist so selbstverständlich, dass der Zusammenhang der wissenschaftlichen Beschäftigung kaum lohnenswert erscheint. Ein Fehler, meint die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Sprache des Rechts“ der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Sie hat nach sechs Jahren Arbeit jetzt den Stand der Forschung in drei Bänden zusammengefasst. Es ist der bisher wohl umfassendste Ansatz, einem Phänomen nachzuspüren: der Funktion und Bedeutung von Recht als Element der Sprache, als Information, als Kommunikation.

Die praktische Dimension rechtssprachlicher Diskurse lässt sich mitunter schon studieren, lange bevor ein Gericht zu entscheiden hat. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit war der Weg zu den Wahlen. Kanzler Gerhard Schröder musste dafür im Parlament die Vertrauensfrage stellen, die man in der bis dato geübten Jurisdiktion als „unechte“ Vertrauensfrage bezeichnete. Statt das Parlament zu bitten, ihm das Vertrauen auszusprechen, bat Schröder, dies gerade nicht zu tun, weil ihm nur eine gescheiterte Abstimmung erlaubt, den Bundespräsidenten um Neuwahlen nachzusuchen.

Was also geschah mit dem Begriff „Vertrauen“, einem Rechtsbegriff immerhin, den Artikel 68 Grundgesetz ausdrücklich nennt und den das Bundesverfassungsgericht als „im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Kanzlers“ bezeichnet? Er wurde, auch von Fachleuten, „mit einem moralischen Unterton erörtert“, wie der Freiburger Staatsrechtler Friedrich Schoch schrieb. Das ist kein Wunder, denn natürlich kann sich „Vertrauen“ nicht gegen emotionale, mitunter auch stark moralisierende Interpretationen stemmen, wenngleich es im Rahmen der Verfassung rechtstechnisch gesehen ein normatives Tatbestandsmerkmal ist wie andere auch.

Das Attribut „unecht“ tat ein Übriges, um Empörung auszulösen. So herrschte Zwist und Verwirrung über den Weg des Kanzlers. Die Sprache dominierte das Recht. Das Recht als Institution eroberte sich seine Interpretationshoheit erst mit dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts zurück, der – von vielen unerwartet – Schröders Vertrauensfrage in allen Punkten als verfassungskonform absegnete. Im Wissen um die kommunikative Dimension ihres Handelns nahmen die Richter eine für künftige Fälle nicht unwichtige sprachliche Korrektur vor. Aus der „unechten“ Vertrauensfrage wurde in ihrem Urteil die „auflösungsgerichtete“ Vertrauensfrage – eine Vokabel mit einem, wie Gottfried Benn sagen würde, deutlich geringeren moralischen Wallungswert. Wenn künftig wieder um Neuwahlen gestritten wird – es dürfte anders gestritten werden.

Recht besitzt also eine ausgeprägte kommunikative Dimension, nur verlor sich deren wissenschaftliche Durchdringung in den Disziplinen. Niklas Luhmann hielt in seiner Systemtheorie rechtliche Kommunikation nur innerhalb des Rechts für bedeutsam, während Linguisten und Germanisten fortwährend die Bürokratisierung und die gepflegten Traditionalismen der Rechtssprache beklagten, gleichwohl ohne je wirklich gehört zu werden. Doch bei der zeittypisch von Justiz-Skepsis geprägten Stilkritik der siebziger Jahre konnte die Entwicklung nicht stehen bleiben, längst ist klar, dass Recht aufgrund seiner institutionellen Bedingungen den Sprachgestaltern nur eingeschränkt zur Verfügung stehen kann. Die Akademie Arbeitsgruppe verfolgt deshalb einen neuen Ansatz und fragt nach „Materialität“ und „Medialität“ des Rechts, wie Herausgeber Kent D. Lerch schreibt.

66 Beiträge von Juristen, Linguisten, Germanisten, Anglisten, Soziologen, Psychologen, Philosophen und Schriftstellern aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritannien, Frankreich, Italien, Norwegen und den USA verteilen sich auf drei Bände. „Recht verstehen“, der erste Band, unterzieht die linguistischen Analysen einer kritischen Untersuchung, „Recht verhandeln“ konfrontiert das rechtspositivistische Verständnis, nach dem ein Urteil aus dem Gesetz herauszulesen ist, mit rhetorischen und argumentationstheoretischen Konzepten. „Recht vermitteln“, der letzte Band, bildet zugleich eine Klammer. Er setzt Recht und Gesellschaft in Relation zueinander und fragt nach dem Recht als einem Fall von Kommunikation; eine wissenschaftlich umstrittene, aber lebensnahe Deutung, man kann diese Funktion in sozialen Konflikten jeder Art studieren: Noch wichtiger als eine institutionelle Entscheidung ist oft der Dialog nach dem Motto: „Gut, dass wir darüber geredet haben.“ Nicht selten wird dann ein Urteil verzichtbar.

Dass es sich beim Recht also auch um etwas jenseits von Buchstaben auf Papier samt ihrer semantischen Bedeutung handeln kann, ist bei den Autoren Konsens. Am interessantesten sind die Ansätze, die mit den tradierten rechtsmethodischen Gepflogenheiten am radikalsten brechen. So stellt der emeritierte Bochumer Rechtswissenschaftler Klaus Röhl etwa Ausschnitte aus seiner Forschung zur „visuellen Rechtskommunikation“ vor. Noch nicht repräsentiert ist leider das Vorhaben des Frankfurter Juristen Thomas Vesting, gleich eine ganze „Medientheorie des Rechts“ zu schreiben. Aber die drei Bände der Akademie machen deutlich, dass die Forschung daran letztlich erst so langsam beginnt – und dass die Rechtswissenschaft dringend auf die Perspektive anderer Disziplinen angewiesen ist, um Rechtswissenschaft zu bleiben.

„Recht verstehen“. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht, 486 Seiten, 98 Euro, Verlag Walter de Gruyter, ISBN 3110181428

„Recht verhandeln“. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, 622 Seiten, 118 Euro, Verlag Walter de Gruyter, ISBN 3110183986

„Recht vermitteln“. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, 566 Seiten, 118,00 Euro, Verlag Walter de Gruyter, ISBN 3110184001

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