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Gesundheit: Indische Geschichtsschreibung: Lieder über die Schlacht von Bobbili

Für die britischen Kolonialbehörden waren die Inder in mancher Hinsicht wie Kinder. Zum Beispiel hatten die Inder nach Einschätzung der Briten keine Vorstellung vom Verlauf der Zeit und somit auch keine ernstzunehmende Geschichtsschreibung.

Für die britischen Kolonialbehörden waren die Inder in mancher Hinsicht wie Kinder. Zum Beispiel hatten die Inder nach Einschätzung der Briten keine Vorstellung vom Verlauf der Zeit und somit auch keine ernstzunehmende Geschichtsschreibung. Die Engländer waren übrigens nicht die ersten, die diesen Eindruck hatten. Schon im 11. Jahrhundert hatte der Universalgelehrte Al-Biruni gesagt: "Leider schenken die Hindus der historischen Ordnung der Dinge keine große Beachtung. Wenn sie von der chronologischen Reihenfolge der Könige berichten, sind sie sehr nachlässig, und wenn man Druck ausübt und nach einer Tatsache fragt, sind sie verlegen, wissen nicht, was sie sagen sollen, und flüchten ausnahmslos ins Geschichtenerzählen."

Am Wissenschaftskolleg in Grunewald arbeiten in diesem Jahr gleich drei Fellows daran, die These zu widerlegen, derzufolge es in Indien keine eigenständige Tradition von Geschichtsschreibung gebe. Sanjay Subramanyam (Ökonom, Paris), Velcheru Narayana Rao (Literaturwissenschaftler, Madison, Wisconsin) und David Shulman (Religionswissenschaftler, Jerusalem) sind ein bemerkenswertes Trio: der eine mit lebhafter Gestik und wallendem schwarzem Vollbart, der zweite zurückhaltend und weißhaarig und der dritte schnauzbärtig mit typisch amerikanischem Humor. Seit Jahren schon forschen sie gemeinsam, haben ein Buch zusammen veröffentlicht, und bei ihrer Präsentation im Wissenschaftskolleg am Mittwoch Abend erwiesen sie sich als geübtes Team, das sich gegenseitig mühelos die Bälle zuspielte.

Erst im Zuge der Kolonialisierung, zusammen mit der Uhr und der Eisenbahn, sei die Geschichtsschreibung nach Indien gekommen: Dieses "Vorurteil" (Sanjay Subramanyam) pflegen inzwischen auch viele indische Wissenschaftler. Sie wenden das vermeintliche Defizit allerdings ins Positive und meinen, die indische Tradition mit ihren Mythen und Legenden sei reicher und vielfältiger als die starre, den Fakten verpflichtete Geschichtsschreibung westlicher Prägung. Inder dächten eben in riesigen Zeitspannen und interessierten sich nicht für die Aufeinanderfolge von Ereignissen auf einer linear verlaufenden Zeitachse. In der Tat taucht die Geschichtsschreibung unter den traditionellen 64 Wissensdisziplinen, den sastras, nicht auf.

Die drei Fellows wollen dagegen beweisen, dass es auch im vorkolonialen Indien eine an Fakten orientierte Historiographie gegeben hat. Sie analysieren dafür Quellen aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, Texte in Lied- oder Epenform, die bisher als reine Folklore abgetan wurden. Einer davon schildert die Schlacht um die Festung Bobbili im Jahre 1757, mit allen diplomatischen Verwicklungen, die dazu führten, und einem Bittbrief der Königin von Bobbili an ihren Gegner. Derartige Texte, die von Chronisten und königlichen Beratern geschrieben wurden, erfüllen laut David Shulman zwei wichtige Bedingungen, um als ernstzunehmende Geschichtsschreibung zu gelten: Sie unterscheiden zwischen Fakt und Fiktion, und sie enthalten Hinweise auf die Quellen, auf die sich der Berichterstatter bezieht. Ein drittes Kriterium, das in der westlichen Sicht zur Geschichtsschreibung dazu gehört, findet Shulman dagegen nicht zwingend - die lineare Temporalität. "Auch im täglichen Leben empfinden wir die Zeit ja nicht als linear, sie hat wechselnde Intensitäten und merkwürdige Wiederholungen." Wenn also in einem Text die Vergangenheit gleichzeitig als prophetisch für die Zukunft dargestellt wird, sei das kein Hindernis.

Diese Definition von Historiographie hat auch Bedeutung für die Geschichtswissenschaft außerhalb Indiens. Subramanyam, Rao und Shulman setzen sich ebenso von der postmodernen Auffassung ab, derzufolge Fakt und Fiktion nicht zu trennen seien, als auch von einer traditionellen westlichen Geschichtsschreibung, die auf einer linearen Zeitauffassung beharrt. Sie sprechen stattdessen von einer "Ökologie", von einem "System" literarischer Texte: Geschichtsschreibung könne in verschiedenen literarischen Genres stattfinden, in Liedern, höfischen Versen oder Prosa, je nachdem, welche Art der Übermittlung und Präsentation von Texten in der jeweiligen Gesellschaft üblich sei - ob mündlich oder schriftlich, ob vor einem ungebildeten oder einem gebildeten Publikum. Nachfolgende Generationen, die sich an die stille Lektüre von Prosatexten gewöhnt hätten, werteten die anderen Formen der Geschichtsschreibung dann gerne als Folklore und reine Phantasiegespinste ab.

Dass sich auch Wissenschaftler in ganz verschiedenen Genres zu Hause fühlen können, bewies Velcheru Narayana Rao dann gleich praktisch: Er sang eines der alten Lieder vor und brachte einen Hauch von indischem Marktplatz in die noble Villa.

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