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Gesundheit: Internat der großen Geister

Denken und spielen: Was das Berliner Wissenschaftskolleg so einzigartig macht

Von Claudia Schmölders DAS HAUS

Ein „Paradies“ nennen es die Schwärmer, ein „Internat“ die Humoristen, eine „Zwangsanstalt“ die Satiriker – das Wissenschaftskolleg im Berliner Grunewald reizt zur poetischen Reaktion. Zu Zeiten der Jenny Treibel fuhr man noch in die Gegend, um sich dort zu vergnügen; die Fahrt in die Wallotstraße von heute war damals ein Ausflug aufs Land. 1910 baute dann Staatsanwalt Franz Linde an der Nummer 19 eine geräumige Villa; 1935 übernahm Görings Reichsluftschutzbund das Haus, nach 1945 wurde es britisches Offizierskasino, seit 1974 wieder Eigentum der Stadt. 1980 gründete der damalige Wissenschaftssenator Peter Glotz nach dem Vorbild des legendären Princeton das deutsche Institute for Advanced Study und siedelte es, zunächst noch zusammen mit den „Dahlem Konferenzen“, hier an.

DER EINZUG

Gründungsrektor wurde Peter Wapnewski – und mit dem Akademischen Jahr 1981/82 begann dann die (geistes)wissenschaftliche Arbeit. Unter den Fellows der ersten Jahre waren Gershom Scholem, Ivan Illich, Mazzino Montinari, Melvin Lasky und Luigi Nono. Seither haben hier tausend Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wahrhaft aus aller Welt und allen Fachgebieten ihr Geschenkjahr verbracht; diskutierend und forschend und immer auf der Suche nach Konzentration auf das mitgebrachte Projekt. Ablenkungen gehören dazu. Nicht nur die neuen Gesichter und Tagesläufe, sondern zuallererst der unvermeidliche Hof der großen Stadt, die nach zehn Jahren Hauptstadt wurde, mit ihren Dramen.

Gleich im Oktober werden die Ankömmlinge durch Spree und Havel gefahren, mit Blick auf die Metropole von unten. Führungen über festen historischen Boden arrangieren die Architektur- oder Kunsthistoriker meist unter den Fellows selber. Die Villenkolonie Grunewald eignet sich dafür besonders gut, schließlich ist eine satzungsgemäße Aufgabe des Kollegs die Pflege deutschjüdischer Netzwerke, und viele Fellows waren und sind mit den Namen der Bewohner vor 1933 vertraut wie Samuel Fischer, Walter Benjamin oder Walter Rathenau.

DAS LEBEN

Ob sich bei zu viel kultureller An- und Aufregung überhaupt noch forschen lässt, fragen sich viele Fellows denn doch nach einer Weile. Dabei können sie über ihre zehn Monate ziemlich frei disponieren, dabei gibt sich die Verwaltung nach innen ganz unaufdringlich, wie der fast schon mythische bibliothekarische Service, wie die zahllosen Hilfestellungen rund um den Alltag für die Familien und immer zahlreicheren Kinder. Nicht zu vergessen der Übersetzungsdienst und der Sprachunterricht; Mario Vargas Llosa unterzog sich ihm viermal wöchentlich, um endlich Rilke lesen zu können.

DAS KOMMUNIZIEREN

Doch Exerzitien haben ein Janusgesicht. Ihrer Außenseite dienen die raffinierten Vernetzungen der Fellows mit den Institutionen der Stadt, die populären Einführungen im Oktober, dann der „Berliner Abend“. Diesem Berliner Kontaktwerk zugrunde liegt freilich das internationale und interkulturelle, daher meist englischsprachige Zusammenwachsen der Community im Hause selbst, das zeugende und korrigierende Gespräch zwischen den Stühlen von Natur-, Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaft. Nicht jeder kann das Wort Netzwerk noch hören, aber gerade hier in der Wallotstraße ist es mehr als ein Wort. Hier schlägt das Herz für den kommunizierenden Gast – ein legendärer Tatbestand, sofern es um das Gespräch beim Essen geht.

DAS ESSEN

Seit der Einführung eines stilvollen Habitus durch Peter Wapnewski ist die Regie der Mahlzeiten der zentrale Akt der Integration. Berühmt und umstritten zugleich sind die gesetzten Mittagessen Dienstagmittag und Donnerstagabend, sowie das Büfett an den andern Tagen. Sie sollen die Wissensgesellschaft bei Tisch aleatorisch beseelen. Immer könnte man anderswo sitzen, immer könnten die Gesprächsthemen wechseln, immer könnten sich neue Ideen einstellen; so das extrovertierte Exerzitium des Austauschs im Schlepptau der höfischen Tradition. Schließlich dürfen die Fellows auch Gäste mitbringen, ebenso wie die Rektoren, womit sich die Zahl der denkbaren fruchtbaren Kommunikate sinnreich vermehrt.

DAS DISKUTIEREN

Der inneren Außenseite des Exerzitiums gehört der Dienstag, der Tag des altnordischen Kriegsgottes Týr: wenn nämlich die Fellows ihr Forschungsprojekt den Kollegen vorstellen und zugleich kritisieren lassen. Es sind Diskussionen ohne Samthandschuhe, schließlich lernen die Gelehrten einander am besten im Ernstfall kennen. Naturgemäß gibt es immer auch Spannungen, sei’s aus politischen oder humoralen Gründen. Andererseits bilden sich oft auch heimliche Untergruppen, die Bücher oder Filme diskutieren, Reisen veranstalten oder Seminare. Diskutiert wird aber auch vehement bei den Abendveranstaltungen, ein bis zweimal im Monat, die das Berliner Publikum gerade wegen der fachlichen Konzentration liebt.

DER AUSZUG

Geht das Kollegjahr zuende, arrangieren die Fellows ihre Abschlussparty. Dann kochen sie ihrerseits für die Mitarbeiter des Hauses und führen Grotesken über das vergangene Jahr auf. Wie sie es einzeln wirklich genutzt haben, kann man zwölf Monate später im Jahrbuch nachlesen. Hier berichten die Forscher oft mit entwaffnendem Charme, mit welchen Plänen sie gekommen und mit welchen Leistungen sie gegangen sind. Das reicht vom Schreiben von Habilitationsschriften oder anderen Standardwerken über die Fronarbeit von Aufsätzen, Vorträgen und Gutachten bis hin zu ganzen Romanen. Auch Wissenschaftler haben ein narratives, wenn nicht künstlerisches Bedürfnis – die Fellow-Historikerin Fania Oz-Salzberger etwa veröffentlichte 2001 ein Buch über Israelis in Berlin.

DAS DANACH

Verlässt dann der Fellow – eine weibliche Namensform ist noch nicht gefunden – den Ort seiner „hermeneutischen Exerzitien“ (Wolf Lepenies), darf er noch Jahre später sein hier geschriebenes Buch eigens präsentieren und Mitglied im „Fellow Club“ bleiben. Dieser Verein lädt ihn dann einmal im Jahr zu einem Dreitagesfest ein, macht die Alten mit den Neuen bekannt und widmet sich ansonsten der Förderung osteuropäischer Forschung. Nicht zuletzt spiegelt sich die Akzeptanz des Instituts darin, dass sich von den tausend Fellows der letzten 25 Jahre rund achtzig hier in Berlin niedergelassen haben, und sei es auch nur in einer Zweitwohnung.

DAS LENKEN

Das Arcanum der Wissenschaft liegt freilich bei den Rektoren. Seit seiner Gründung ist das Kolleg stetig über die Grenzen Berlins hinausgewachsen; vor allem unter Wolf Lepenies und dann unter Dieter Grimm hat es sich um osteuropäische Dependencen in Bukarest und Budapest, um Foren in Afrika und Indien vermehrt, hat neue Geldgeber in der Schweiz und in Schweden gefunden und mit dem Prinzip der „Permanent Fellows“ eine internationale Beratergruppe etabliert, die mit der Auswahl nicht nur einzelner Fellows sondern ganzer Forschungsschwerpunkte befasst ist.

DAS AVANCIEREN

Aber Achtung. Das alles könnte man für blanke Fassade halten, für schiere Konzession an den Stil eines wissenschaftlichen Institutes. Aber natürlich stammen die Inhalte, die hier im idyllischen Ambiente erarbeitet werden, immer aus einer „advanced perspective“, wie der amerikanische Name des Kollegs sagt. So wurden die Arbeitsschwerpunkte „Theoretische Biologie“ und „Moderne und Islam“ schon vor zehn Jahren begründet; der religiöse Problemkomplex stand also lange vor 2001 auf der Agenda, und ebenso schnell hat man auf die Herausforderungen der Genetik – Dolly, das Klonschaf von 1996 – reagiert.

Schwerpunkte werden von Gruppen erforscht, nicht oder nicht nur von Individuen in der stillen Klause. So hat sich der Form nach inzwischen der Stil der Naturwissenschaft durchgesetzt, eben weil sie in Gruppen denkt und inzwischen auch eingeladen wird. Was wird dabei aus den Einsamkeits- und Versenkungswünschen der Geistesforscher und Künstler? Es wird eine neue Hermeneutik daraus. Eine heilsame Regie von oben könnte die Einsamen mit den Kollektiven in gegenseitigen Neid verstricken. Kein schlechtes Rezept.

Die Autorin war 1991/92 Fellow des Wissenschaftskollegs und ist Vizepräsidentin des Fellow Clubs. Sie unterrichtet am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin.

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