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Akupunktur

© dpa

Interview: „Chinesische Medizin im Laufställchen“

Was der Westen unter fernöstlicher Heilkunde versteht, ist ein Kunstprodukt, sagt der Sinologe Paul Unschuld. Seiner Ansicht nach ist die historische chinesische Medizin hierzulande noch weitestgehend unerforscht.

In Deutschland ist die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) besonders beliebt und wird von Krankenkassen unterstützt. Sie sind da kritischer. Warum?

Viele Menschen hierzulande sind der irrtümlichen Meinung, die sogenannte TCM sei identisch mit einer Medizin, die sich in China über mehrere Jahrtausende hinweg entwickelt hat. Tatsächlich wissen wir über die historische chinesische Medizin noch recht wenig. Sicher ist: Die chinesische Medizin als geschlossenes System hat es zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte gegeben.

Also eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen?

Seit vorhistorischen Zeiten bis in die Gegenwart hat es in China eine vielfältige Heilkunde gegeben – an Erfahrung orientierte Arzneikunde, magische Therapien, Ahnenheilkunde und manches andere mehr. Davon hat sich vor etwa 2000 Jahren – wie wenig zuvor in Griechenland – eine Medizin abgesetzt, die sich auf Naturgesetze berief. Grundlage waren die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen. Die Akupunktur war Teil dieser Medizin. Diese Medizin wurde aber nur von einem Teil der Oberschicht akzeptiert und auch nicht als homogenes System überliefert, sondern in vielen verschiedenen Deutungen weiterentwickelt.

Und wie kam es zur Traditionellen Chinesischen Medizin?

Das ist ein Kunstprodukt des 20. Jahrhunderts. Um 1950 setzte die Regierung Chinas eine Kommission ein, der hauptsächlich westlich ausgebildete Ärzte angehörten. Sie sollten aus dem heilkundlichen Gesamterbe diejenigen Anteile herausfiltern und auf die Grundlage moderner Logik stellen, die in einer der modernen Wissenschaft zugewandten Gesellschaft noch Sinn machten.

In Ihrem Buch „Was ist Medizin?“ nennen Sie dies die Umwandlung eines riesigen Gebäudes in ein Laufställchen.

Die Menschen bauen sich seit eh und je heilkundliche Ideensysteme, die manchmal wie Käfige wirken, aus denen man nicht mehr herauskommt. Dennoch bietet die TCM Halt und gibt Hoffnung, wenn andere Therapien es nicht mehr schaffen, Angst zu nehmen und Zuversicht zu vermitteln. Man muss doch anerkennen, dass es viele Probleme gibt, für welche die wissenschaftliche Medizin keine Lösungen kennt. Sonst bräuchten wir ja keine wissenschaftliche Forschung mehr. Und man muss auch sehen, dass viele Menschen sich angesichts der Bedrohung durch Kranksein in ihrem Verhalten eher von Gefühlen als von nüchternen Statistiken leiten lassen.

Was sagen eigentlich die Chinesen zur Popularität der TCM im Westen?

Es war für manche schon eine große Überraschung, dass sich hier ein Teil der Bevölkerung von der naturwissenschaftlich und technisch orientierten Medizin verabschiedet und chinesischen Traditionen anvertraut. Für die Regierung ist das nicht unproblematisch, da sie die Schwäche Chinas in der Vergangenheit in dem – mittlerweile längst behobenen – Mangel an westlich-wissenschaftlichem Denken begründet sieht und keinen Rückfall dulden möchte. Andererseits in die TCM auch ein Exportartikel, mit dem man viel Geld verdienen kann.

Kann denn der Westen etwas von der chinesischen Medizin lernen, ohne sich in das TCM-Laufställchen einzusperren?

Es gibt in China einen riesigen Pool an zweitausendjähriger Erfahrung, zusammengetragen von höchst intelligenten und aufmerksamen Beobachtern der Natur und des Menschen. Die chinesische Kultur hat zum Teil ähnliche Wege im Umgang mit Kranksein und existenziellen Ängsten gefunden wie Europa, zum Teil aber auch ganz andere. Beim Zusammenführen des Besten aus beiden Kulturen sind die Chinesen im Vorteil: Sie haben zu unserer Vergangenheit und Gegenwart einen sehr viel besseren Zugang, als wir zu ihrer.

Das versuchen Sie ja zu ändern. Nach 20 Jahren Medizingeschichte an der Universität München bauen Sie nun an der Charité das „Horst-Görtz-Stiftungsinstitut für die Theorie, Geschichte und Ethik chinesischer Lebenswissenschaften“ auf – ein sperriger Name.

Und ein Glücksfall. Der Stifter, Horst Görtz, ist ein Unternehmer, der in beispielhafter Weise Projekte in Forschung und Lehre fördert. Damit bietet sich erstmals die Möglichkeit, die im Namen des Instituts angesprochenen Themenkreise langfristig in einem akademischen Kontext zu erforschen und zu lehren.

Welche Ideen stehen dahinter?

China gewinnt politisch, wirtschaftlich, aber auch medizinisch-wissenschaftlich zunehmend an Bedeutung. In allen drei Bereichen ist die Vernetzung mit der westlichen Welt enorm. Wir müssen China genauso ernst nehmen wie etwa die USA. Wir brauchen mehr Leute, die Chinesisch sprechen und die landeskundliche Fakten kennen, China im Bereich der Lebenswissenschaften erforschen, verstehen und mit den chinesischen Wissenschaftlern auf gleicher Augenhöhe kommunizieren, das möchten wir den Studenten vermitteln.

Was bieten Sie im Sommersemester an?

Den Beginn eines Vorlesungszyklus, der von der Frage „Was ist Medizin?“ über die Grundzüge der Medizingeschichte Chinas bis zu Spezialthemen führt. Ferner Seminare und Sprachkurse für modernes und klassisches Chinesisch in den Lebenswissenschaften.

Und in der Forschung werden Sie sich kaum auf medizinhistorische Themen beschränken?

Wir wollen helfen, Brücken zu bauen, um den Zugang zu Quellen zu eröffnen, wenn Mitglieder der Charité Projekte mit chinesischen Kollegen planen.

Das Gespräch führte Rosemarie Stein.

Paul Unschuld
Paul Unschuld

© Charité

PAUL UNSCHULD

(63) ist Sinologe und Medizinhistoriker. Er leitet das neue Horst- Görtz-Institut für Theorie, Geschichte und Ethik chinesischer Lebenswissenschaften an der Charité.

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